Roman von Pierre Michon

Die Grande Beune

Vor 70 Jahren entdeckte man im Südwesten Frankreichs eine Höhle mit magischen Tierbildern. Lascaux heißt der Ort. Die steinzeitliche Galerie schlummert in den Uferfelsen der bedächtig dahinströmenden Vézère. Unweit von Lascaux nimmt die Vézère einen Nebenfluss auf, der zu literarischen Ehren gelangte: Er heißt "Die Grande Beune".

Pierre Michon wurde 1945 im zentralfranzösischen Departement Creuse geboren. Die Eltern waren Lehrer, der Vater entfloh früh. Pierre studierte Literatur in Clermont-Ferrand, schloss sich einem Theatertrupp an, wartete auf Godot, berauschte sich an weiblichen Reizen und künstlichen Paradiesen. Dann schrieb er die Lebensbilder einiger Mitbürger auf und wurde mit einem Schlag bekannt. Da war er 39. "Vies minuscules" heißt das Buch, und in der deutschen Übersetzung "Leben der kleinen Toten".

Es folgten biografische Miniaturen von Heiligen und Künstlern, etwa "Rimbaud, der Sohn". Dieser zählt, neben Faulkner und Flaubert, zu den wichtigsten literarischen Vätern des Autors. "Der Ursprung der Welt" heißt sein nächstes Projekt, genau wie das skandalumwitterte Tafelbild von Gustave Courbet, das einen weiblichen Schoß zeigt.

Erster Posten für den Junglehrer

Erste Kapitel von Michons Ursprungsphantasie erscheinen in Literaturzeitschriften, 1996 dann das Buch, allerdings unter dem Titel "La Grande Beune", nun auf Deutsch "Die Grande Beune". Die Geschichte spielt im Jahr 1961, in einem Dorf an der Beune. Dort tritt der Ich-Erzähler, ein namenloser Junglehrer, seinen ersten Posten an und gerät in den Sog einer dunklen, gar nicht bukolischen France Profonde. Sein Mittel gegen den Mahlstrom heißt Ironie; nach ihm greift er schon im zweiten Satz des Buches:

Michons Dorf ist ein abgeschlossener Kosmos, bevölkert von einem archaischen Personal. Die bäurischen Männer werden uns als walachische Jäger präsentiert, die Große Beune als das Urweib, dem alles Leben entspringt. Und dann gibt es drei leibhaftige Frauen: die mütterliche Gastwirtin Hélène, das blasse Liebchen Mado und die Tabakverkäuferin Yvonne. Sie verkörpert das Prachtweib und stürzt den Schulmann in einen urzeitlichen Sinnenrausch.

Kraftstrotzende Prosa

Die Gattungsbezeichnung Roman trifft auf das knapp hundertseitige Werk nur bedingt zu. Doch die Kürze ist Programm. Alles Füllwerk, so meint der Autor, entzieht der Prosa nur ihre Energie. Was bleibt, ist die pure Essenz. Michons Prosa strotzt vor Kraft: So dicht, so perfekt gemeißelt sind seine Satzgefüge, dass keine Messerklinge in die Fugen passt, schreibt Jürg Laederach in seinem Nachwort zur "Großen Beune". In Michons Bollwerk aber wirkt eine rohe Kraft. Der Autor nennt sie das universelle Miasma. Ja, dem Urzeitboden um Lascaux entströmt ein Brodem, der die profane Ordnung zersetzt. Selbst die kalte Platte im Dorfgasthaus ist davon befallen.

Rot und Schwarz

Michons Bilderwelt ist durchtränkt mit den Schwarz- und Rottönen der Höhlenkunst. Abgründig schwarz schimmert das Ölzeug der Fischer und verführerisch das Haar von Yvonne. Ochsenblutrot lodert die Gaststube von Hélènes Hotel, in dem der junge Mann Quartier bezieht, und feuerrot die Fuchstrophäe über der Schank. Das Szenario verstört den Schulmann.

Den Kontrast zum dämonischen Schwarz-Rot bilden die mystisch-weißen Kraniche oder die fahlweißen Albinokarpfen, die im Dunkeln laichen. Und die milchweiße Haut von Yvonne, brutal besessen von Jeanjean, dem trunkenen Jäger, und rasend begehrt vom Lehrer. Doch der bekommt von Yvonne nur zu sehen, was selbst ihrem kleinen Sohn nicht verborgen bleibt. Michon erweist sich als ein Erbe der Schwarzen Romantik, wo er Lust und Schmerz untrennbar miteinander verbindet.

Der Ursprung der Kunst

Das Spannungsfeld von Verbot und Überschreitung erzeugt Schmerz. Selbst die Landschaft ist erotisch aufgeladen. Von den Lippen eines Felsens ist da die Rede oder von der stark angeschwollenen schlammigen Beune, die Eiszapfen von ihren Ufern leckt. Und vom jungfräulichen, unerschöpflichen Weiß einer Höhle. Doch das entfacht nicht nur Sexualphantasien, sondern symbolisiert auch das weiße Blatt des Schriftstellers. Michon beschreibt im Folgenden nichts anderes als den Ursprung der Kunst:

Die Höhlenbilder sind der Ausdruck eines Wesens, das ermisst, was es auf dem Weg der Menschwerdung verliert. Es hat das Werkzeug erfunden, sammelt Wissen und muss fortan seine Tiernatur verleugnen. Nur im Spiel, im Ritus und in der Kunst darf es die Verbote der Zivilisation überschreiten, heißt es in dem Werk "Lascaux oder die Geburt der Kunst" des Philosophen Georges Bataille. "Die Große Beune" von Pierre Michon ist also auch ein Buch über den künstlerischen Schaffensprozess, der so fiebrig und schmerzvoll sein kann wie die Träume des Lehrers.

Text: Ingeborg Waldinger

Service

Pierre Michon, "Die Grande Beune", aus dem Französischen übersetzt von Katja Massury, Suhrkamp

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