Debütroman von Silvia Avallone
Ein Sommer aus Stahl
Silvia Avallones Romanerstling "Sommer aus Stahl" - in Italien mit 300.000 verkauften Büchern ein großer Erfolg - ist jetzt auch auf Deutsch erschienen. Angesiedelt in den Jahren 2001 und 2002 im Küstenort Piombino nahe des zweitgrößten und ältesten Stahlwerks Italiens, erzählt er vom Heranwachsen zweier Mädchen zwischen Mietskaserne und Strand.
8. April 2017, 21:58
Anna und Francesca, beide 13 Jahre alt, sind Freundinnen. Durch ihre Schönheit und Vitalität fallen sie auf in der Via Stalingrado, in der sich die Wohnblöcke aus besseren Zeiten aneinanderreihen, und am Strand davor, den kein Tourist je aufsuchen würde.
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Viele sagten, dieser Strand sei schrecklich, weil es kein Strandbad gebe, der Sand sich mit dem Rost und Abfall mische, die Abflüsse mitten hindurchführten und nur Verbrecher und die armen Teufel aus den Sozialwohnungen dorthin gingen. Tonnenweise Algen, die die Gemeinde einfach nicht entfernen ließ.
Scheinbare Lichtgestalten
Im gleißenden Licht am Meer spielen sie mit ihrer erwachenden Erotik, genießen die bewundernden Blicke auf ihre makellosen Körper, während das sonstige Leben in der Hitze erlahmt.
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Im Juni gingen die alten Leute und die Kinder um drei Uhr nachmittags ins Bett. Draußen brachte das Licht alles zum Glühen. Die Hausfrauen und die Rentner im Azetatanzug, die den Hochofen überlebt hatten, ließen halb erstickt den Kopf vor dem Fernseher sinken.
Wie zwei Lichtgestalten aus Jugend und Zukunft erscheinen die beiden Freundinnen in einer Umgebung, in der alles dem Verfall preisgegeben ist. Doch hinter dem strahlenden Aussehen der Mädchen drücken eine Menge schwerer Probleme.
Keine Perspektiven
Annas Vater ist ein Krimineller und Spieler, der selten zu Hause ist und wenn doch, stets für schlechte Stimmung sorgt. Ihre Mutter, werktätig und in der Kommunistischen Partei engagiert, schafft es nicht, sich von ihm zu lösen. Annas bewunderter Bruder Allessio arbeitet im Stahlwerk, schnupft Kokain und ist der Star der samstäglichen Discotheken. Im Gegensatz zu seinem Vater ist er zwar stolz auf seine ehrliche Arbeit, Perspektiven und Zukunftspläne gibt es aber keine.
Während Anna mit ihrer Mutter und ihrem Bruder noch ein halbwegs intaktes Familienleben besitzt, lebt Francesca in einer wahren Hölle. Von ihrem Vater, einem stumpfen, hilflosen Stahlarbeiter, wird sie regelmäßig verprügelt und missbraucht. Von der eingeschüchterten Mutter ist keine Hilfe zu erwarten. Und selbst ist sie nicht imstande, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Stattdessen ergeht sie sich in Fantasien, deren Nahrung aus dem Fernsehen kommt.
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Sie würde es nie schaffen, von zu Hause wegzulaufen. Er würde es ihr verbieten, er würde sie überall suchen. Mit achtzehn vielleicht. Ja, mit achtzehn würde sie an der Wahl zur Miss Italia teilnehmen, von irgendjemandem entdeckt werden und weggehen können.
Eine Welt im Umbruch
Die Freundschaft zu Anna ist Francescas einziger Halt, sie steigert sich zur Liebe. Als sich die frühreife Anna mit dem ehemaligen Kriminellen Matteo einlässt, fühlt sich Francesca verraten. Haltlos und unglücklich wird sie zur Nachtclubtänzerin und Prostituierten. Nach einer Reihe von Enttäuschungen und Katastrophen erweist sich die Nähe zwischen Anna und Francesca aber als stark genug, um von einer Mädchenschwärmerei zu einer Lebensfreundschaft zu werden.
Silvia Avallone schildert eine Jugend, die weniger ein Erblühen als ein Sich-Behaupten ist in einer Welt im Umbruch - oder präziser: im Niedergang. Der alles prägende Hintergrund der Geschichte ist real: das Stahlwerk Lucchini. Es ist Lebensquelle und Monster zugleich. Eine Stadt in der Stadt, teils pulsierende, menschenfressende Produktionsmaschinerie, teils Industrieruine, auf deren giftdurchtränkten Böden Katzen ohne Beine zur Welt kommen. Ein Rummelplatz für verzweifelte Unterhaltung.
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Doch die Arbeiter der siebten Generation machten sich einen Spaß daraus, auf den Baggern wie auf Stieren zu reiten, mit kugeligen Transistorradios und einer Amphetaminpille unter der Zunge.
Rückzug ins Virtuelle
In den 1970er Jahren beschäftigte das Stahlwerk Lucchini 20.000 Menschen, jetzt nur noch 2.000. Die Auswirkungen eines solchen Schrumpfungsprozesses sind zwar nicht Thema der Geschichte, bilden aber ihre Rahmenbedingungen. Die Namen der Straßen und Plätze zeugen von einer stolzen Arbeitertradition. Sie sind aber nur noch Staffage.
Annas Mutter verteilt Zettel für die Kommunistische Partei, kann aber ihren Sohn nicht mehr überzeugen. Allessio identifiziert sich mit den gesellschaftlichen Siegern, obwohl er nicht zu ihnen gehört, und wählt Forza Italia. Das allgegenwärtige Fernsehen setzt glitzernde Scheinwelten gegen die alten Werte. Die von der Wirklichkeit frustrierten Menschen ziehen sich ins Virtuelle zurück und dämmern dahin. In einer solchen Welt verkehren sich Stärken zu Schwächen.
Selbst die Schönheit wird so zum Verhängnis: Die bewundernden Blicke auf das Mädchen am Strand werden zu jenen der Freier auf die Nachtclubtänzerin. Wie in einem Gefängnis kreisen Avallones Figuren zwischen Stahlwerk und Mietskaserne, als gäbe es kein Draußen. Dabei sind die weißen Strände Elbas nur vier Kilometer entfernt, aber unerreichbar und weniger real, als die überall laufenden TV-Shows erscheinen sie.
Intime Gesellschaftsanalyse Italiens
Silvia Avallone ist mit "Ein Sommer aus Stahl" ein beeindruckender Romanerstling in einer sehr zeitgemäßen Spielart des Neorealismo gelungen. Raffiniert die Perspektive wechselnd, begleitet die Erzählerin einzelne Figuren und führt sie in schlüssigen Handlungssträngen zusammen.
Die einfache Sprache und die geschlossene Motivik ergeben eine spannende, sinnliche Geschichte, die eine intime Gesellschaftsanalyse Italiens - frei von ideologischem Kitsch - enthält. Und ein Plädoyer für die Freundschaft. Denn Freundschaft erzeugt Nähe. Und Nähe erzeugt Wirklichkeit.
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Silvia Avallone, "Ein Sommer aus Stahl", Klett-Cotta
Klett-Cotta - Ein Sommer aus Stahl