Debütroman von Silvia Avallone

Ein Sommer aus Stahl

Silvia Avallones Romanerstling "Sommer aus Stahl" - in Italien mit 300.000 verkauften Büchern ein großer Erfolg - ist jetzt auch auf Deutsch erschienen. Angesiedelt in den Jahren 2001 und 2002 im Küstenort Piombino nahe des zweitgrößten und ältesten Stahlwerks Italiens, erzählt er vom Heranwachsen zweier Mädchen zwischen Mietskaserne und Strand.

Anna und Francesca, beide 13 Jahre alt, sind Freundinnen. Durch ihre Schönheit und Vitalität fallen sie auf in der Via Stalingrado, in der sich die Wohnblöcke aus besseren Zeiten aneinanderreihen, und am Strand davor, den kein Tourist je aufsuchen würde.

Scheinbare Lichtgestalten

Im gleißenden Licht am Meer spielen sie mit ihrer erwachenden Erotik, genießen die bewundernden Blicke auf ihre makellosen Körper, während das sonstige Leben in der Hitze erlahmt.

Wie zwei Lichtgestalten aus Jugend und Zukunft erscheinen die beiden Freundinnen in einer Umgebung, in der alles dem Verfall preisgegeben ist. Doch hinter dem strahlenden Aussehen der Mädchen drücken eine Menge schwerer Probleme.

Keine Perspektiven

Annas Vater ist ein Krimineller und Spieler, der selten zu Hause ist und wenn doch, stets für schlechte Stimmung sorgt. Ihre Mutter, werktätig und in der Kommunistischen Partei engagiert, schafft es nicht, sich von ihm zu lösen. Annas bewunderter Bruder Allessio arbeitet im Stahlwerk, schnupft Kokain und ist der Star der samstäglichen Discotheken. Im Gegensatz zu seinem Vater ist er zwar stolz auf seine ehrliche Arbeit, Perspektiven und Zukunftspläne gibt es aber keine.

Während Anna mit ihrer Mutter und ihrem Bruder noch ein halbwegs intaktes Familienleben besitzt, lebt Francesca in einer wahren Hölle. Von ihrem Vater, einem stumpfen, hilflosen Stahlarbeiter, wird sie regelmäßig verprügelt und missbraucht. Von der eingeschüchterten Mutter ist keine Hilfe zu erwarten. Und selbst ist sie nicht imstande, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Stattdessen ergeht sie sich in Fantasien, deren Nahrung aus dem Fernsehen kommt.

Eine Welt im Umbruch

Die Freundschaft zu Anna ist Francescas einziger Halt, sie steigert sich zur Liebe. Als sich die frühreife Anna mit dem ehemaligen Kriminellen Matteo einlässt, fühlt sich Francesca verraten. Haltlos und unglücklich wird sie zur Nachtclubtänzerin und Prostituierten. Nach einer Reihe von Enttäuschungen und Katastrophen erweist sich die Nähe zwischen Anna und Francesca aber als stark genug, um von einer Mädchenschwärmerei zu einer Lebensfreundschaft zu werden.

Silvia Avallone schildert eine Jugend, die weniger ein Erblühen als ein Sich-Behaupten ist in einer Welt im Umbruch - oder präziser: im Niedergang. Der alles prägende Hintergrund der Geschichte ist real: das Stahlwerk Lucchini. Es ist Lebensquelle und Monster zugleich. Eine Stadt in der Stadt, teils pulsierende, menschenfressende Produktionsmaschinerie, teils Industrieruine, auf deren giftdurchtränkten Böden Katzen ohne Beine zur Welt kommen. Ein Rummelplatz für verzweifelte Unterhaltung.

Rückzug ins Virtuelle

In den 1970er Jahren beschäftigte das Stahlwerk Lucchini 20.000 Menschen, jetzt nur noch 2.000. Die Auswirkungen eines solchen Schrumpfungsprozesses sind zwar nicht Thema der Geschichte, bilden aber ihre Rahmenbedingungen. Die Namen der Straßen und Plätze zeugen von einer stolzen Arbeitertradition. Sie sind aber nur noch Staffage.

Annas Mutter verteilt Zettel für die Kommunistische Partei, kann aber ihren Sohn nicht mehr überzeugen. Allessio identifiziert sich mit den gesellschaftlichen Siegern, obwohl er nicht zu ihnen gehört, und wählt Forza Italia. Das allgegenwärtige Fernsehen setzt glitzernde Scheinwelten gegen die alten Werte. Die von der Wirklichkeit frustrierten Menschen ziehen sich ins Virtuelle zurück und dämmern dahin. In einer solchen Welt verkehren sich Stärken zu Schwächen.

Selbst die Schönheit wird so zum Verhängnis: Die bewundernden Blicke auf das Mädchen am Strand werden zu jenen der Freier auf die Nachtclubtänzerin. Wie in einem Gefängnis kreisen Avallones Figuren zwischen Stahlwerk und Mietskaserne, als gäbe es kein Draußen. Dabei sind die weißen Strände Elbas nur vier Kilometer entfernt, aber unerreichbar und weniger real, als die überall laufenden TV-Shows erscheinen sie.

Intime Gesellschaftsanalyse Italiens

Silvia Avallone ist mit "Ein Sommer aus Stahl" ein beeindruckender Romanerstling in einer sehr zeitgemäßen Spielart des Neorealismo gelungen. Raffiniert die Perspektive wechselnd, begleitet die Erzählerin einzelne Figuren und führt sie in schlüssigen Handlungssträngen zusammen.

Die einfache Sprache und die geschlossene Motivik ergeben eine spannende, sinnliche Geschichte, die eine intime Gesellschaftsanalyse Italiens - frei von ideologischem Kitsch - enthält. Und ein Plädoyer für die Freundschaft. Denn Freundschaft erzeugt Nähe. Und Nähe erzeugt Wirklichkeit.

Service

Silvia Avallone, "Ein Sommer aus Stahl", Klett-Cotta

Klett-Cotta - Ein Sommer aus Stahl