Gegenkultur oder Marketingmasche?
Underground
Die Idee vom "Underground" findet sich in vielen künstlerischen Formen, in der Musik ist sie besonders mit Pop verbunden. Jazz und Klassik wenden sich an Spezialisten, doch wie geht ein eigenständiger Stil mit dem Streben nach breitem Erfolg zusammen? Gibt es Pop, der nicht populär sein will?
8. April 2017, 21:58
Komplizierte Mythen
1969 präsentierte die Plattenfirma Columbia/CBS mit der Kampagne "That's Underground!" eine neue Generation von Rockbands auf dem amerikanischen Markt. Deren Musik war zuvor kaum im Radio zu hören gewesen und war gewissermaßen Sountrack der gesellschaftlichen Umwälzungen, die auch beim Woodstock Festival zum Ausdruck kamen. Zugleich war "That's Underground!" bereits eine Marketing-Masche der Kulturindustrie.
Doch die selbstverständliche Verwendung des Begriffs setzte eine Idee, einen Mythos voraus, der offenbar allgemein bekannt sein sollte. Wie es ja auch mit den griechischen, germanischen oder auch biblischen Mythen der Fall ist: Alle haben schon mal davon gehört, aber manche Menschen scheitern schon an der Frage, welcher Mythos christlichen Feiertagen zugrunde liegt, an denen auch die Atheisten frei haben. Andererseits ist zum Beispiel Fronleichnam tatsächlich nicht einfach zu erklären. Mythen können kompliziert sein.
Reale Freiräume
Aber wenn man etwas nicht erklären kann, könnte man kein vierteiliges Musikfeature dazu machen - also: Die Idee von Underground in der Popmusik hat ihre mythischen Aspekte, setzt aber keinen Glauben voraus. Vielmehr braucht Underground-Pop einen Nährboden. Underground-Musik ist kein klar definierter Stil wie Bebop, Rockabilly oder eine Sarabande von Bach, sondern ein Produkt von Umständen. Zu allererst braucht es einen "Mainstream" als Widerpart: Je gehaltloser die Klangwelten des Massenmarktes sind und je weniger sie auf relevante Probleme Bezug nehmen, desto größer wird der Spielraum, wo der Underground seine musikalischen Formen entfalten kann.
Parallel nützen diese Underground-Musik und ihre Hörer reale Freiräume: Ein weites Feld in Woodstock (um ein Klischee zu bemühen), kleine Bühnen in der US-Provinz der 1980er, oder auch leer stehende DDR-Gebäude im postindustriellen Berlin nach der Wende.
Berliner Club-Underground
Nach der Wende in Berlin beschallten tatsächlich spontane Raveparties mit Acid House und der noch neueren Techno Musik die leeren Räume. Diese neue Bewegung traf auf die Tradition der Berliner Hausbesetzerszene, die durch den Mauerfall ebenfalls neuen Schwung bekam. Die Szene schuf stetig neue Strukturen, wo Recht und Realitäten dafür Platz ließen, also vielerorts. Geförderte Kulturvereine belebten alte Villen neu, in den Industrieruinen wurde der Underground-Clubszene regulär Platz zugeteilt: Das Konzept der Zwischennutzung ließ die Gebäude nicht völlig leerstehen, und die Kulturschaffenden hatten ein Dach über ihren Projekten.
Unter solchen Bedingungen gedieh die Sub- und Clubkultur prächtig, und mit ihr die enstprechende Musik. Bis heute konzentriert sich der Berliner Club-Underground in den ehemaligen Ostbezirken, das Vakuum nach der Wende war der Ausgangspunkt.
Underground lockt Touristen
Mittlerweile gehört Underground zum Berliner Alltag, die deutsche Hauptstadt lockt Touristen mit seiner kreativen Clubszene. 2011 sind aber auch alle Berliner Liegenschaften erfasst und ihr Wert beziffert. Investoren melden Interesse an. Zentrale Lagen werden teurer, Zwischennutzungen sind hier nicht mehr so gerne gesehen. Auch der Underground-Club Maria, der seit 1998 in leer stehenden Liegenschaften an der Spree residiert, muss demnächst neuen Begehrlichkeiten weichen. Das Programm ist nach wie vor mehr an Innovation denn an Gefälligkeit orientiert, trotzdem war "die Maria" zuletzt auch Anlaufstelle jenseits der Szene.
Der Film "Berlin Calling" porträtierte 2008 einen fiktiven DJ und Produzenten im Kontext der Berliner Musikszene und verewigte den Club Maria als Schauplatz seiner Handlung. Plötzlich kamen auch Leute, die das Image aus dem Film suchten, sich jedoch wenig für das aktuelle Programm begeistern konnten. Vielleicht ist der Zeitpunkt für den Ortswechsel gerade recht. Wenn der reale Ort verschwindet, bringt das Unannehmlichkeiten für die Betreiber, fördert aber den Mythos Underground: Wenn etwas zu greifbar wird, ist es kein Underground mehr. Egal ob Hippie-Songs, Alternative Rock oder Minimal Techno, die Musik als Zeitdokument bleibt Teil des Mythos.