Politische Utopien im Praxistest

Liquid Democracy

Entscheidungen im stillen Kämmerlein, Korruption durch Lobbyisten: Ist unsere repräsentative Demokratie in der Krise? Politik-Visionäre haben ein Modell entworfen, das die Vorteile von Basisdemokratie und repräsentativer Demokratie kombinieren will: Liquid Democracy nennt sich das Ganze. Die deutsche Piratenpartei probiert es bereits aus. Nicht ganz ohne Konflikte.

Kompetentere abstimmen lassen

Gemäß basisdemokratischen Prinzipien kann jeder jederzeit bei allem mitreden und mitbestimmen. Wem das zu viel wird, der kann sein Stimmrecht für bestimmte Themen auf andere übertragen. Aber jederzeit wieder zurückholen. Das sind die Grundprinzipien der Liquid Democracy.

Macht, Einfluss und Stimmgewicht sind hier also ständig im Fluss, erklärt Christopher Lauer, politischer Geschäftsführer der deutschen Piratenpartei: "Diese Delegationen kumulieren und dann hat man Leute, die sehr viel Vertrauen auf sich vereinen. Aber das ist quasi nur für den Augenblick. In dem Moment, in dem sie das Vertrauen missbrauchen, kann ihnen das auch sehr schnell wieder entzogen werden. Und das unterscheidet Liquid-Democracy-Konzepte von der repräsentativen Demokratie, wie wir sie kennen."

Software lenkt Entscheidungsprozess

Ein Grundproblem bei Basisdemokratie: Es ist schwierig, ein paar Tausend Beteiligte gleichzeitig in eine Halle zu setzen, damit sie diskutieren und abstimmen. Das Internet ermöglicht solche Prozesse. Die deutschen Piraten haben dafür ein eigenes Programm entwickelt: Liquid Feedback. Es erlaubt Abstimmungen und verwaltet Stimmendelegationen.

Im Liquid-Feedback-System kann man Anträge veröffentlichen und grüne Balken als Zeichen der Zustimmung verteilen. Was man nicht kann: Kommentare abgeben. Damit sollen miesmacherische Trolle ferngehalten werden, also notorische Kampfposter, wie man sie aus Internetforen kennt. "Das System erlaubt nur konstruktives Feedback", erklärt Christopher Lauer, "daher haben wir diese Diskussionskultur nicht, wie es sie in Foren gibt, wo Leute, die einfach nur Aufmerksamkeit wollen, anonym vor Publikum auf die Kacke hauen." Seiner Meinung nach führt die Software-gesteuerte Meinungsfindung in Liquid Feedback zu mehr Sachlichkeit, sagt Lauer.

Das gläserne Parteimitglied?

Doch nicht alle Mitglieder der Piratenpartei sind glücklich über das neue System. Einer der Kritiker ist Matthias Heppner, Vorsitzender des Kreisverbandes Rheinhessen. Sein Hauptkritikpunkt ist, dass es im Liquid Feedback System keine anonyme Teilnahme, also auch keine anonyme Abstimmungen gibt. Geheime Wahlen gehören seiner Meinung nach jedoch zum Grundprinzip einer Demokratie.

Die Piraten fordern zwar einen gläsernen Staat, aber keinen gläsernen Bürger und folglich auch kein gläsernes Parteimitglied, sagt Matthias Heppner: "Jeder, der Anträge einstellt oder irgendwo abstimmt, muss ein wenig mit der Angst leben, dass er aufgedeckt werden könnte und das halte ich für ein demokratisches Defizit, weil der Minderheitenschutz dadurch nicht gewährleistet ist". Menschen, die sich beobachtet fühlen, verhalten sich unter Umständen anders. Auch bei Abstimmungen. Wer würde sich zum Beispiel trauen, offen für die Homosexuellen-Ehe zu stimmen, wenn der erzkatholische Erbonkel das sehen kann?

Transparenz versus Datenschutz

Simon Weiß von den Berliner Piraten stimmt hier nur teilweise zu. Neben geheimen Wahlen sei auch Nachvollziehbarkeit ein Grundprinzip. Er war maßgeblich an der Einführung von Liquid Feeback beteiligt. Ihm geht es hier vor allem um Transparenz und Kontrollierbarkeit. Und anonymes Abstimmen sei eben auf Computern derzeit nicht möglich, weil man sonst nicht kontrollieren könne, ob alles mit rechten Dingen zugehe und nichts manipuliert worden ist.

Transparenz versus Datenschutz - ein Spannungsfeld, das die Piratenpartei noch lösen muss. Christopher Lauer glaubt, dass die Erfahrungen im Politik-Labor der Piraten später einmal als Basis für eine neue Politik dienen könnten: "Doch, das dauert noch Jahrzehnte und es braucht ein Umdenken." Außerdem dürfe man die Energie der etablierten Machtstrukturen nicht ignorieren, die solche Konzepte der direkten Demokratie naturgemäß verhindern wollen.