Keine Lösung in Sicht

Belgien: Fast ein Jahr regierungslos

In Belgien läuft das politische Geschäft jetzt schon seit elf Monaten ohne Regierung. Der abgestrafte und abgewählte Premierminister Yves Leterme gewinnt in den Umfragen wieder an Zustimmung. Dennoch zeichnet sich kein Ausweg aus der Dauerkrise ab. Neuwahlen würden kaum eine Änderung bringen. Große Politthemen bleiben weiter unentschieden.

Mittagsjournal, 07.05.2011

Surreale Situation

Dem Surrealismus widmet Belgien ein eigenes Museum - freilich dem Surrealismus in der bildenden Kunst. Dennoch fühlen sich mittlerweile zahlreiche Besucher des René Magritte Museums an die aktuelle belgische Politik erinnert. Frederic Leen, der Kurator des Magritte Museums, zieht Parallelen zwischen den bizarr-realen Traumwelten Magrittes und der belgischen Regierungskrise. "Auf den ersten Blick meint man alles wiederzuerkennen. Aber die Bilder stimmen nicht." - "Es ist eine surreale Situation - im Land funktioniert ja alles. Es fällt keinem mehr auf, dass wir keine Regierung haben", sagt ein junger flämischer Besucher.

"So geht alles leichter"

Tatsächlich funktioniert Belgien, und das obwohl die Regierung von Yves Leterme vor mehr als einem Jahr zurücktreten musste und seine flämischen Christdemokraten bei den Wahlen kurz darauf vom Wähler abgestraft wurden. Doch weil sich die neugewählten Kräfte um die Regierungsbildung streiten, macht Yves Leterme zunächst weiter. Mit Erfolg, wie er im ORF-Interview erklärt: "Es läuft jetzt alles leichter, denn in der Übergangsregierung haben wir die Staatsreform, unser Dauerstreitthema, ausgeklammert. Deshalb kann jetzt Belgien normal regiert werden. Als Übergangsregierung müssen wir aber vorsichtig sein und können jene Themen beschließen, die politisch unstrittig sind."

EU-Rahmen und regionale Entscheidungen

So hat der abgewählte Regierungschef ohne Parlamentsmehrheit ein Budget nach EU-Sparvorgaben geschnürt, den EU-Ratsvorsitz angeführt und den belgischen Militäreinsatz in Libyen beschließen lassen. Unstrittige Themen sehen anders aus. Leterme: "Einer der Hauptgründe, warum es trotzdem recht gut läuft ist dass wir innerhalb Belgiens einen starken Förderalismus haben, wie er auch in Österreich bekannt ist. Die regionalen Regierungen nehmen viele Entscheidungen ab. Und darüber haben wir den Rahmen der Europäischen Union. Wir erfüllen alles, was die EU vorgibt, bei der Budgetplanung etwa das Sparprogramm. Das gibt uns die Stabilität."

"Idealen treu bleiben"

Die Europäische Union als stabile Konstante trotz Staatskrise - Yves Leterme verteidigt den Europäischen Gedanken, vor allem angesichts der in ganz Europa aufstrebenden antieuropäischen Bewegungen: "Wir haben alle das gleiche Problem mit dem aufkommenden Populismus. Ich finde, wir sollten unseren Idealen und Zielen treu bleiben und nicht den Fehler machen, beim Regieren immer nur auf die Meinungsumfragen zu schauen.

Letermes sachliches und staatsmännisches Auftreten honoriert die belgische Bevölkerung aktuell - laut Meinungsumfragen steigt der vor einem Jahr noch abgestrafte Yves Letereme in der Wählergunst. Seine Erklärung dazu: "Ich glaube, die Menschen stellen jetzt fest: Der Typ, den wir 2007 mit 800.000 Stimmen gewählt haben, wir haben uns in ihm nicht völlig getäuscht. Er ist im Stande das Land zu führen.

Große Themen stecken fest

Der Politikwissenschaftler Markus Wunderle vom sozio-politischen Forschungszentrum CRISP in Brüssel relativiert aber: Selbst wenn Leterme nun positive Ergebnisse vorweist: Von völliger Entspannung könne in Belgien keine Rede sein. So gebe es nach wie vor kontroverse Themen ohne Fortschritt wie etwa die Pensionsreform. In solchen Themen werde nichts getan, während diese immer größer würden.

Neuwahl würde nichts ändern

Währenddessen stecken die Regierungsverhandlungen, die eben auch Lösungen für wirtschafts- und gesellschaftspolitische Themen zum Ziel haben sollten, fest. Die sieben verhandelnden Parteien kommen nicht weiter - es spießt sich wie so oft in den letzten 11 Monaten am belgischen Sprachenstreit, an Abspaltungstendenzen der Flamen, an der Verteilung von Kompetenzen und Steuern. Neuwahlen werden immer wahrscheinlicher, frühestens im Oktober. Aber keine Partei wolle als erste sagen, dass sie nicht mehr mitmacht, so Markus Wunderle. Doch laut Umfragen dürften auch Neuwahlen die politische Pattstellung kaum verändern. Das allerdings würde das surreale Bild der belgischen Politik schon nahezu wieder abrunden.