Liebesgeschichte von Alex Capus
Léon und Louise
Erfahrungsgemäß enden große Liebesgeschichten mit dem frühzeitigen Tod eines oder beider Liebenden. Nicht in diesem Fall. Die Liebe von Léon zu seiner Louise überdauert Jahrzehnte. Es ist die Liebe eines Mannes zu einer Frau, die er nur ein einziges Mal für einen kurzen Moment besessen hat.
8. April 2017, 21:58
Alex Capus erzählt von der großen Liebe zweier Menschen inmitten der Irren und Wirren Frankreichs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Léon verlässt seine Familie während des Ersten Weltkriegs und meldet sich zum Kriegsdienst. In einem kleinen Ort nahe der Grenze wird er als Funker stationiert. Seine Abende verbringt er damit, im Café du Commerce zu warten - in der Hoffnung ein Mädchen mit schwarzen Haaren und gepunkteter Bluse wieder zu sehen, das ihn auf der Fahrt in den Ort überholt hat.
Und wirklich, irgendwann steht sie plötzlich da. Sie sprechen miteinander, trinken Rotwein und von da an sehen sie sich öfter. Zögerlich entfaltet sich eine Liebesgeschichte, die ihren Höhepunkt und ihr vorläufiges Ende in einem gemeinsamen Ausflug ans Meer findet, auf ihren alten Rädern fahren sie an die Küste. Sie übernachten am einsamen Strand, der Krieg ist für ein paar Stunden unendlich weit weg und vielleicht ist es Liebe, die sie da spüren, jedenfalls aber das Gefühl, zum anderen zu gehören. Auf dem Weg zurück geraten sie zwischen die Fronten. Im Chaos verlieren sie einander aus den Augen. Alleine finden Sie sich wieder... und glauben den jeweils anderen tot.
Familie muss sein
Das Buch vermittelt den Anschein einer Familiensaga, es wird von Männern mit flachen Hinterköpfen erzählt und von Frauen, die immer ein klein wenig klüger sind als diese. Eine Geschichte von ehrbaren Männern und fleißigen Frauen - die große Liebe ist in diesem System nicht vorgesehen. Viel wichtiger ist die eigene Reproduktion, die Aufrechterhaltung der Familie, nicht ausschließlich als ein gesellschaftliches Konstrukt, viel mehr als ein Gedankengebäude, als eine Sichtweise, die immer die Nachfahren, weniger das eigene Fortkommen im Blick hat.
Und so gründet Léon ein paar Jahre später eine solche. Er heiratet eine Frau und komme was wolle, er verspricht, sie nicht zu verlassen. Die Männer seiner Familie halten ihre Versprechen. Léon setzt Kinder in die Welt, mit dieser einen Frau, die nie Louise sein wird und der er versichert, wenn schon nicht sie zu lieben, so wenigstens zu ehren. Auf immer.
Wiedersehen nach Jahren
Einige Jahre später begegnet er in der Pariser U-Bahn einer Frau, die eine so verblüffende Ähnlichkeit mit Louise hat, dass nur sie selbst es sein kann. Sie treffen sich, einmal, fahren hinaus aufs Land, vergewissern sich, dass sie es sind, lieben sich, aber ändern können sie es nicht. Die Tatsache, dass Léon verheiratet ist, dass er bei seiner Frau, den Kindern bleiben wird.
Louise schreibt ihm Briefe, wartet auf ihn oder einen anderen, der besser wäre, den sie nicht finden wird. Es vergehen Wochen, Monate, Jahre, bis sie sich wieder sehen. Vergessen aber können sie sich nicht. Léon versteckt sich hinter seiner falschen Ehrbarkeit, so sehr, dass sie zur Selbstaufgabe verkommt.
Verschmolzen mit Zeitgeschichte
Weite Teile der Lebensgeschichte der beiden sind ausgespart, vielmehr ist der Blick auf einen bestimmten Zeitraum wesentlich, einzelne Tage, ein paar Wochen werden detailreich geschildert. Ein Damals ersteht so wieder auf.
Ausgehend vom Einzelnen schildert Alex Capus mit zum Teil charmanten Formulierungen, die seine Schweizer Herkunft verraten, Vorkommnisse, die das 20. Jahrhundert prägten. Historische Ereignisse werden gekonnt mit literarischen Passagen verflochten, Zeitgeschichte und die Lebensgeschichten der Figuren werden so miteinander verschmolzen.
Rückzug ins Boot
Fast unmerklich gleiten die Jahre vorbei, das Ende des Zweiten Weltkrieges steht kurz bevor. Léon arbeitet bei der Pariser Polizei als Lebensmittelanalytiker. Immer noch verheiratet, immer noch in Gedanken bei Louise, besteht seine Arbeit daraus herauszufinden, mit welchen Giften sich Menschen gegenseitig ins Jenseits befördern.
Die Nazis marschieren ein und Paris verändert sich, wird stiller, weniger ausgelassen. Unter der Herrschaft der Deutschen lehnt Léon sich auf, immer nur soweit, dass weder für ihn noch für seine Familie eine ernsthafte Gefahr entsteht. Den Kaffe aber, der ihn als Geschenk der Obrigkeit zum politischen Stillhalten zwingen soll, trinkt er nicht. Er sammelt die Dosen, verkauft sie nach und nach, das Geld aber rührt er nicht an, es vermehrt sich in einer vergessenen Schublade.
Wenig später bietet ihm ein Mann sein Segelboot an, er braucht Bargeld um zu flüchten und so wird Léon, der kleine Junge, der an der französischen Küste aufgewachsen ist, immer schon eine Affinität zum Meer und zu Segelschiffen hatte, Bootsbesitzer. Der alte Kahn liegt im Hafen, seine Kajüte wird Rückzugs- mehr noch Sehnsuchtsort für Léon. Jeden Tag verbringt er seine Mittagspause dort, erst nur in Gedanken an Louise, schließlich mit ihr selbst.
Liebe bis zum Ende
Der Tod ist in "Léon und Louise" immer präsent. Die Lebensbezüge der Figuren erfahren, ob der ständigen Präsenz des Anderen, des Leb- und Hilflosen, eine dramatische Steigerung. Zart durchwirkt die Liebe Léon und Louises die Jahre, setzt sich inmitten von Krieg, Gewalt und Zwängen schließlich über alles hinweg. Sie bleibt bestehen, bis zum Ende, das bedauerlicherweise nicht als glücklich bezeichnet werden kann.
Für manches ist es zu spät, und so hinterlässt das Buch, nachdem es ein letztes Mal zugeklappt wurde, ein leises Gefühl von Schwermut, das einen auffordert, seine Zeit nicht länger mit Warten zu verschwenden, vor allem aber nach mehr solcher großer Geschichten verlangt.
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Alex Capus, "Léon und Louise", Carl Hanser Verlag
Hanser - Alex Capus