Fantasievoller Roman von David Mitchell

Number 9 Dream

Man kann es sich heute kaum mehr vorstellen, aber vor knapp 20 Jahren noch hatte die ganze Welt Angst vor Japan. Nicht vor den Atommeilern, sondern vor der wirtschaftlichen Macht des Landes. Die uniformierten Manager, die sich immer brav verneigten, nichts sagten, dafür aber einige der wichtigsten Konzerne der USA aufkauften, ließen die Welt vor dem "japanischen Modell" erzittern.

Dann kam der Börsencrash, der Zusammenbruch des japanischen Immobilienmarktes, und zwei Jahrzehnte der wirtschaftlichen Stagnation. Heute gilt Japan als negatives wirtschaftliches Modell - so überaltert, so hochverschuldet will keine Volkswirtschaft sein. Was sich aber über die zwei Jahrzehnte, in denen der Mythos Japan abgebröckelt ist, erhalten hat: Japan steht nach wie vor für das absolut Fremde.

Mystisches Japan

Es ist ein Land und eine Kultur, die sich dem Europäer so gut wie gar nicht erschließt. Und auf genau dieses ganz Andere bezieht sich David Mitchell in seinen Romanen. Der Autor, der acht Jahre in Hiroshima unterrichtet hat, lässt immer wieder dieses mystische Japan in seine Romane einfließen. So spielen die ersten zwei Kapitel seines Debütromans, der auf Deutsch "Chaos" heißt, in Okinawa und Tokio und handeln unter anderem von den Giftgasanschlägen auf die Tokioter U-Bahn. Und sein bis dato letzter Roman "The thousand Autumns of Jacob De Zoet", der noch nicht auf Deutsch erschienen ist, thematisiert den Handel der Dutch East India Company mit Japan zu Ende des 18. Jahrhunderts.

Sein zweiter Roman "Number 9 Dream" - 2001 im Original erschienen und erst jetzt ins Deutsche übersetzt - spielt in Tokio. Oder sagen wir besser: in einer fantasierten Form der Stadt - in einem Tokio, das sich zusammensetzt aus der realen Metropole, aus Videospielsequenzen, Fieberfantasien, Verschwörungstheorien und Mafia-Gerüchten.

Auf der Suche nach dem Vater

Auch wenn es bei David Mitchells Romanen zumeist nur bedingt Sinn macht, die Handlung nachzeichnen zu wollen; versuchen wir es trotzdem: Der Protagonist heißt Eiji Miyake. Er kommt vom Land und hat bis dato nicht viel anderes gemacht, als Orangen geerntet. In die Metropole ist er gezogen, weil er endlich seinen Vater finden will, der ihn kurz nach der Geburt verlassen und den er niemals zu Gesicht bekommen hat.

Im Grunde ist der Roman also eine klassische Geschichte. Ein junger Provinzler kommt in die große Stadt, will seinen Vater finden und findet dabei sich selbst. Aber bei David Mitchell ist ja nie etwas einfach; jede Geschichte hat zumindest einen doppelten, wenn nicht gar dreifachen Boden. Das beginnt schon mit der ersten Szene. Eiji sitzt in einem Cafe und überlegt, wie er an die geheimen Akten kommen kann, die die Anwaltskanzlei versteckt hält. Dann folgt eine virtuose Einbruchsszene, die sich liest, als wäre sie aus einem Action-Spiel übernommen. Ist sie auch, denn das, was da berichtet wird, entstammt bloß der überbordenden Fantasie von Eiji.

Realität, Traum oder Fantasie?

Gekonnt changiert Mitchell mit den verschiedensten Erzählebenen. Wenn der Begriff "postmoderner Roman" heute noch auf einen Autor anwendbar ist, dann auf ihn. Denn nie ist dem Leser ganz klar, auf welcher Erzählebene er sich gerade befindet. Ist es die mehr oder weniger reale Ebene der Tatsachen, die Ebene der Träume, die der Fantasie oder ist es vielmehr eine Erzählung in der Erzählung, die dann oft wieder in eine Erzählung verpackt ist.

Wenn zum Beispiel ein irrer Gott dem Psychiater beweisen will, dass er wirklich Gott ist und deshalb Belgien verschwinden lässt, handelt dann eine reale Erzählfigur, oder der Gott, von dem ein Psychiater seiner Frau in einem Film erzählt? Oder jene Szene, in der Eiji anwesend ist, wenn der Yakuza-Boss drei feindliche Offiziere auf einer Bowlingbahn bis zu den Köpfen vergräbt und ihnen dann mit Bowlingkugeln die Köpfe zertrümmert. Ist das ein Traum - oder ist diese Erzählung auf irgendeiner verborgenen Ebene doch real?

Geschichten in Geschichten

Eiji sucht also seinen Vater und das führt zu einer absurden Tour de Force durch Tokio. Man könnte sogar sagen, dass die Stadt der eigentliche Hauptdarsteller des Romans ist - so wie Paris bei Balzac. Eiji findet einen Job am Bahnhof, wo er verlorene Gegenstände inventarisiert. Er lernt durch Zufall einen jungen Mann kennen, der mit der organisierten Kriminalität in Verbindung steht, und ebenso durch Zufall lässt ihn der Chef der Yakuza doch am Leben.

Dann wacht Eiji in einem verlassenen Haus auf, das einer tauben Fantasy-Autorin gehört, die sich gerade in Deutschland befindet. Und wieder verwischen sich die Ebenen, denn Mitchell berichtet von Eijis Erlebnissen im Haus und der surrealistischen Geschichte der Autorin, in der drei anthropomorphe Tiere die Hauptrolle spielen.

Und so als wäre das alles noch nicht genug, fällt Eiji am Schluss noch das Kriegstagebuch seines Großonkels in die Hände, der sich 1944 auf einen selbstmörderischen Torpedo-Einsatz vorbereitete.

Und damit ist erst ein kleiner Teil der Handlung nacherzählt. Aber wie gesagt, eine stringente Handlung ist ohnehin nicht David Mitchells Sache. "Number 9 dream" ist so voller Geschichten, so voller verschiedenster Ebenen, das der Roman schier zu zerbersten droht. Dass das Ganze trotz allem lesbar bleibt, und die Lektüre wirklich Spaß macht, beweist, dass Mitchell einer der interessantesten Autoren der Jetzt-Zeit ist, auch wenn man das im deutschsprachigen Raum noch nicht so richtig erkannt hat.

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David Mitchell, "Number 9 Dream", aus dem Englischen übersetzt von Volker Oldenburg, Rowohlt Verlag

Rowohlt - David Mitchell