Das Wechselspiel von Wikipedia und Journalismus

Die Wirklichkeit aus Wikipedia

Wer früher im altehrwürdigen Brockhaus nachgeschlagen hat, findet heute das Wissen dieser Welt bei Wikipedia. Doch auch für Journalisten ist die Online-Enzyklopädie eine wichtige – aber schwierige – Informationsquelle.

Der erste Info-Anker

Wie heißt der Premierminister von Aserbaidschan? Was sind Oktonionen? Wann wurde Osama bin Laden geboren? Solche Fragen haben früher bei so manchem Pubquiz für Kopfzerbrechen gesorgt. Heute geht ein Spieler in den Nebenraum, sucht den Begriff mit seinem Internethandy und landet auf dem größten Wissensschatz der Menschheitsgeschichte: der freien Enzyklopädie Wikipedia.

Das Pubquiz ist nicht der einzige Lebensbereich, dem Wikipedia seinen Stempel aufgedrückt hat. Schüler, Studentinnen und Lehrkräfte wissen ebenfalls davon zu berichten. Doch auch wenn in einem Medienhaus jemand wissen möchte, wie viele Einwohner Burkina Faso hat, kommt die Online-Enzyklopädie zum Einsatz.

Das zeigt sich im Journalisten-Report III, der die Recherchepraktiken von österreichischen Politikjournalisten unter die Lupe genommen hat. Andy Kaltenbrunner, einer der Autoren der Studie, hat zum Thema Wikipedia gleich ein ganzes Kapitel geschrieben: "Rund neunzig Prozent nützen Wikipedia fast täglich oder zumindest mehrmals wöchentlich. Das heißt, der erste Informationsanker, wenn Journalisten Informationen im Netz suchen, ist Wikipedia."

Outsourcing ans Kollektiv

Für den schnellen Überblick hat Wikipedia die alten Lexika komplett ersetzt. Und nicht nur das. Medienunternehmen hatten früher ein Papierarchiv mit wichtigen Informationen, die so genannte Hausdokumentation. Heute übernimmt diese Rolle Wikipedia.

Haben Journalisten früher dem Archivar im Keller vertraut, müssen sie sich heute auf die anonyme Masse von freiwilligen Wikipedia-Autoren verlassen, ganz wie der Rest der Bevölkerung. "Das war sicher kein Vorteil vorher, dass man biografische Informationen nur mühsam über ein Zettelarchiv besorgen konnte. Es standen eben weniger Quellen zur Verfügung – die manchmal besser überprüft waren", so Kaltenbrunner.

Wilhelm Guttenplag

Das Wechselspiel von Wikipedia und Journalismus funktioniert meistens reibungsfrei – bis auf wenige Störfälle, die hin und wieder in den Schlagzeilen landen. Das passierte etwa im Jahr 2009, als Karl-Theodor zu Guttenberg vor seiner Angelobung als Verteidigungsminister auf Wikipedia zu seinen neun existierenden Vornamen noch einen zehnten dazu bekam, nämlich "Wilhelm". Sowohl die Boulevard- als auch die Qualitätsmedien.

Seit Guttenbergs Plagiatsaffäre haben sich öfter die Namen „Xerox“ und „Googleberg“ in seinen Wikipedia-Artikel eingeschlichen. Die hätte kaum jemand versehentlich abgeschrieben. Doch klingt eine Information auf Wikipedia glaubwürdig genug, kann sie weite Kreise ziehen.

Mangelnde Quellentransparanenz

Den Autoren von Wikipedia kann man eben nicht in jedem Fall vertrauen. Das Problem von vielen Internetquellen und speziell von Wikipedia ist nämlich, dass sie keine Quellentransparenz bieten können: "Wir wissen nicht, wer darin geschrieben hat, von welchen Interessen geleitet überarbeitet wurde", sagt Andy Kaltenbrunner, "und würden wir in unserem Wissensfortschritt nur auf die so genannte Schwarmintelligenz vertrauen, wäre die Erde einige Jahrhunderte länger eine Scheibe geblieben."

Dabei wären Fehler wie falsche Vornamen oder erfundene Zitate zu vermeiden gewesen. Bei jedem Artikel auf Wikipedia lässt sich in einer Versionsgeschichte nachsehen, wann und von wem er geändert wurde. Ist eine Information erst kurz zuvor und von einem unbekannten User hinzugefügt worden, sollten alle Alarmglocken läuten. Doch die Forschung von Andy Kaltenbrunner zeigt, dass beim Umgang vieler Journalisten mit Wikipedia Verbesserungsbedarf besteht. „Aus unserer Forschung sehen wir, dass viele Journalisten mit dem Instrument nicht wirklich umgehen gelernt haben.“

Mangelnde Fortbildung

Dabei kann man den Journalisten keinen Mangel an Interesse vorwerfen. Viele würden sich in Sachen Netz nur zu gerne weiterbilden, attestiert Andy Kaltenbrunner. Doch in der allgemeinen Hektik bleibt keine Zeit dafür: "Journalisten werden mit solchen Fragen weitgehend alleine gelassen. Es gibt eine große Bereitschaft, aber es fehlt das Angebot", sagt Kaltenbrunner, "der Hinweis, wie wichtig neue Medien sind, steht in den Karriereseiten der Zeitungen – die, die darüber schreiben, haben aber kaum einen Tag Zeit, sich selbst damit auseinander zu setzen."

Nicht nur Journalisten werden mit solchen Fragen oft alleine gelassen. Neue Medien verlangen neue Kompetenzen, und in Zeiten des Internets besteht die Schwierigkeit nicht mehr darin, eine Information zu finden, sondern eher, aus einem Meer von Informationen die glaubwürdigste herauszufischen. Eine Kompetenz, die sich beim Umgang mit Wikipedia erst entwickeln muss. "Wikipedia hat heute eine hohe Glaubwürdigkeit, aber das ist noch nichts gegen das Fernsehen vor einigen Jahrzehnten. Was im Fernsehen lief, war die Wahrheit, und erst später ist das Bewusstsein gekommen: es muss nicht zwangsläufig so sein."

Leichtgläubige digital natives

Diese Kompetenz lernt kaum jemand von alleine, auch nicht die Generation der so genannten Digital Natives, die mit den neuen Technologien aufgewachsen sind. Das zeigen Studien immer wieder. Vierzig Prozent der Zwölf- bis Dreizehnjährigen in Deutschland glauben etwa, dass Inhalte im Internet immer auf ihre Richtigkeit geprüft werden. Und laut einer anderen Studie beurteilen britische Studenten die Glaubwürdigkeit einer Website nicht nach ihrem Autor, der Adresse oder dem Inhalt – sondern nach der Reihung im Google-Suchergebnis.

Geht es nach Andy Kaltenbrunner, kann die Erziehung zum kritischen Medienkonsumenten darum gar nicht früh genug beginnen. "Das setzt viel früher an, in der Schule oder gleich im Kindergarten, nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern durch praktisches Tun. Die Gesellschaft hat dafür zu sorgen, dass weite Bevökerungsteile mit den digitalen Quellen umgehen lernen."

Recheck und Wikipedia

Für die Journalisten von heute kommen solche Maßnahmen zu spät, sie müssen sich selbst weiterbilden, um mit den Veränderungen ihres Berufs Schritt zu halten und ihre Daseinsberechtigung nicht zu verlieren. In Zeiten von unsicheren Quellen sind Profis in Sachen Informationsbeschaffung und -beurteilung besonders gefragt.

Wer hochwertige und gesicherte Informationen anbieten kann, hat einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz, glaubt Andy Kaltenbrunner: "Wer eine bestimmte Qualität des Journalismus weiter anbietet, viele Quellen erschließt und in kluge Zusammenhänge stellt, wird in Zukunft an Bedeutung gewinnen."

Für den schnellen Überblick wird Wikipedia weiter zum Alltag von Journalisten gehören, denn trotz allen Schwierigkeiten ist es der umfassendste und am leichtesten erreichbare Informationsspeicher im Netz. Nur müssen diese Informationen nicht immer richtig sein.