110.000 Neuerscheinungen pro Jahr
Buchmarkt Russland
"Ich kann mich gut daran erinnern, wie überwältigt wir waren, als wir statt der leeren Buchläden mit den angestaubten Propagandaschinken in unseren Straßen plötzlich, wie hingezaubert, einen Bücherstand neben dem anderen entdeckten. Und überall Bücher, Bücher, Bücher..."
8. April 2017, 21:58
So erlebte die Moskauer Soziologin und Bibliothekswissenschaftlerin Valerija Stelmach nach dem Zerfall der Sowjetunion den radikalen Umbruch des russischen Buchmarktes. War das Angebot jahrzehntelang von den kommunistischen Machthabern rigide gesteuert gewesen, gab es nun mit einem Mal einen für alle Arten der Lektüre offenen Markt.
Verlagswachstum in den 1990ern
"Die erste Branche, die sich sofort in der neuen Marktwirtschaft etablierte und geradezu aufblühte, war das Verlagswesen", schreibt Stelmach in einer Studie zum Buchwesen in Russland. Tatsächlich erlebte der russische Buchmarkt in den 1990er Jahren ein geradezu explosives Wachstum, das zu einer Vielzahl von Verlagsgründungen und der Eröffnung von zahllosen Buchläden führte. Zwar ist der Boom in den letzten Jahren ein wenig abgeflaut, weiterhin aber kann die Buchbranche auf durchwegs positive wirtschaftliche Resultate verweisen.
Den Hauptumsatz machen dabei - mit jeweils 28 Prozent - Belletristik und Kinderliteratur aus, gefolgt von Lehrbüchern und Populärwissenschaftlichem. Derzeit gibt es rund 5.800 Verlage, die jährlich zirka 110.000 Neuerscheinungen herausbringen. Damit liegt der 142-Millionen-Einwohner-Staat gerechnet auf die Einwohnerzahl im europäischen Spitzenfeld der Buchproduktion - was nicht verwundert, denn das Lesen hat in Russland seit jeher einen hohen Stellenwert und gilt auch weiterhin als eine der wichtigsten kulturellen Praktiken. Immerhin gaben bei einer Umfrage des russischen Meinungsforschungsinstitutes VZIOM im Jahr 2009 22 Prozent der Befragten an, täglich in einem Buch zu lesen - im Vergleich dazu sind es in Deutschland nur 9 Prozent.
Eine möglichst umfangreiche private Büchersammlung zu besitzen ist Zeichen sozialer Distinktion - und so gaben in der VZIOM-Umfrage 65 Prozent an, zuhause zwischen 100 und 300 Bücher zu besitzen, 15 Prozent zwischen 300 und 1000 - auch das ein internationaler Spitzenwert.
West-Ost-Gefälle
"Die ältere Generation erinnert sich noch an die Zeiten, in denen ein gutes Buch Mangelware war. Nach einem guten Buch musste man richtig jagen. Ein seltenes Buch galt als würdiges Honorar für einen Zahnarzt, ein Verkehrspolizist nahm ein Band von George Simenons Kriminalromanen als Bestechung gerne entgegen. Eine Zeit lang wurde das Projekt 'Bücher gegen Makulatur' realisiert. Um einen Roman kaufen zu können, mussten die interessierten Leser zunächst 25 Kilogramm Altpapier sammeln und abliefern. Ein solches Projekt kannte wohl sonst kaum ein Land Europas", so die Internet-Zeitung "Kultur.Russland".
Derzeit beträgt der durchschnittliche Buchpreis in Russland 4,40 Euro - das durchschnittliche Monatseinkommen liegt bei 500 Euro. Allerdings gibt es dabei ein sehr starkes West-Ost-Gefälle: je weiter östlich, desto geringer die Einkommen - in Moskau und Sankt Petersburg hingegen liegen sie weit über dem Durchschnitt.
Das hat auch seine Auswirkungen auf den Buchmarkt. 70 Prozent aller Bücher werden in Moskau und Petersburg herausgegeben - und auch dort verkauft. Außerhalb der großen Zentren können sich nur wenige Menschen Bücher leisten - und je weiter man in den Osten kommt, desto teurer wird zudem die Lektüre, denn die Versandkosten etwa von Moskau nach Wladiwostok übersteigen erheblich den eigentlichen Buchpreis.
Kaum Bibliotheken
"Es ist paradox: Trotz 110.000 pro Jahr erscheinender Titel in Russland lebt die Bevölkerung in den Regionen weiterhin wie zu sowjetischer Zeit, als ausgesprochener "Bücherhunger" herrschte", schreibt Valerija Stelmach. Eine wesentliche Ursache für den "Bücherhunger" ortet sie auch in der Tatsache, dass das System der staatlichen Bibliotheken, das zu Sowjetzeiten sehr gut ausgebaut und vor allem für die Lektüreversorgung der entlegenen Regionen von großer Bedeutung war, kaum mehr funktioniert, da jede öffentliche Unterstützung fehlt.
Und es gibt, so Valerija Stelmach, weder Geld noch neue Bücher: "Deshalb ist der Moskauer Büchermarkt mit Publikationen überfüllt, während mir eine Freundin aus Wladiwostok schreibt: 'Bücher! Um Gottes Willen, schickt uns Bücher!'"
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