Skurrile Begegnungen

Norbert Leser und Sepp Dreissinger

"Das Wesen des Skurrilen besteht darin, dass Dinge, die eigentlich nicht zusammen gehören, trotzdem zusammenkommen und eine merkwürdige Mischung ergeben", sagt der Sozialphilosoph Norbert Leser. "Skurrile Begegnungen. Mosaike zur österreichischen Geistesgeschichte" so heißt das jüngste Buch des eigenwilligen Denkers.

Fremdbeobachtung und Eigendefinition

Mit der Definition des "Skurrilen" beschreibt der emeritierte Universitätsprofessor auch gleich sich selbst: In seinem Buch schildert Leser die unterschiedlichsten, auf den ersten Blick "nicht zusammen gehörenden" Begegnungen - etwa mit dem großen Spötter Thomas Bernhard, dem großen Vermittler Kardinal Franz König; dem legendären Kommunisten Viktor Matejka oder dem verhinderten Kaiser Otto Habsburg.

Auch in der Person des 78-jährigen Norbert Leser selbst treffen die unterschiedlichsten Identitäten aufeinander: er ist aufrechter Sozialdemokrat und zugleich scharfer Kritiker der SPÖ; ein sachlicher, wenngleich immer wieder auch umstrittener Denker - und zugleich ein in himmlischen Sphären schwelgender Katholik; lebenslanger Einzelkämpfer ebenso wie gesellig schunkelnder Freund von Wein und Gesang.

Im Wiener Lokal Schmid Hansl frönt Norbert Leser seiner größten Leidenschaft: "Ich hab mich in diesem Lokal in das Wiener Lied vertieft, ursprünglich passiv, doch dann hat man gesagt, 'Du hast doch eine schöne Stimme' - und so ist die CD 'In vino veritas' entstanden."

Das Model und sein Regisseur

Im "Schmid Hansl" ist Norbert Leser auch der Fotograf Sepp Dreissinger ("Ich hab ihn singen gehört und finde, er hat einiges auf dem Kasten!") begegnet. Sepp Dreissinger, als jahrzehntelanger fotografischer Begleiter Thomas Bernhards durchaus geschult im Umgang mit vielschichtigen Persönlichkeiten, war fasziniert vom - so Lesers Eigendefinition - "skurrilen" Gelehrten.

"Weil das einfach ungewöhnlich ist, dass ein Wissenschaftler, den man so in sich geschlossen kennt, einfach anfängt, seine Wienerlieder zu singen - von der Maria Theresia, dem 'Reserl aus Wien', das war für mich eine gelungene Geschichte."

Mit der "gelungenen Geschichte" meint Sepp Dreissinger sein jüngstes künstlerisches Produkt: Soeben hat Dreissinger einen Film über Norbert Leser fertiggestellt. Freunde und Weggefährten des Philosophen kommen darin zu Wort.

Begegnung mit Thomas Bernhard

Mit Interesse hörte Sepp Dreissinger von der Begegnung Norbert Lesers mit Thomas Bernhard. Eine Begegnung, die nach Lesers Definition gleichfalls skurril verlief, denn sie endete - nach einer unbedachten Äußerung des Professors über den Dichter - mit einem Bruch, den Leser auch eingehend in seinem Buch schildert. Was Norbert Leser und Thomas Bernhard jedoch vereinte, war die Hingabe an die Musik, erinnert sich Sepp Dreissinger. Die von Thomas Bernhard und Norbert Leser bevorzugten musikalischen Genres sind freilich so unterschiedlich wie die beiden Charaktere.

Sepp Dreissinger, der wie Bernhard einst selbst Musikstudent am Salzburger Mozarteum war. schildert, wie er Thomas Bernhard einmal singen hörte: "Das war bei einem Thomas Bernhard-Symposium im ORF Linz, wo Bernhard persönlich anwesend war. Es ist ein Film über ihn gelaufen, und da war Mozartmusik im Hintergrund. Er ist hinter mir gestanden, fünf Zentimeter von meinem Ohr entfernt, und ich hab zuerst nicht gewusst, wer hinter mir diese Oper von Mozart singt - mit hoher Stimme, wie ein Falsettgesang. Es war eine wunderbare, nicht ausgebildete Stimme, denn Thomas Bernhard musste ja wegen seiner Krankheit aufhören, Musik zu studieren. Und ich war entzückt, wie ich gemerkt habe, Thomas Bernhard steht hinter mir und singt eine Mozartarie, ich drehte mich um und sah: in diesem Moment war er vollkommen glücklich."

Das Göttliche in der Musik

Auch Norbert Leser erfährt musikalische Verzückung - beim Singen von Wiener Liedern. Und diese Verzückung ist bei ihm buchstäblich spiritueller Natur, setzt er Musik doch immerhin mit dem Göttlichen gleich: "Wir sehen ja Gott nicht, aber er macht sich uns über Inspirationen erfahrbar. Auch Mozart und Haydn haben das so empfunden. Es gibt einen Stich von Haydn, wo er bei der Premiere seines Schöpfungsoratoriums, bereits krank und zerbrechlich in einem Tragstuhl sitzt. Alle applaudieren, aber er weist das Lob zurück und weist mit dem Zeigefinger nach oben. Ich glaube, dass die Kunst ein Mittel zwischen dem absoluten Sein Gottes, der Ewigkeit und der Zeit ist. Nirgends kommen sich Ewigkeit und Zeit so nahe wie im großen Kunstwerk. Und wenn man auf irgendeinem Gebiet kreativ sein kann, dann ist es das Schönste. Aber die meisten Menschen sind dazu verurteilt, nur passiv zu konsumieren."