Krimi von Didier Decoin
Der Tod der Kitty Genovese
New York City, Stadtteil Queens, im März 1964. Weit nach Mitternacht wird eine junge Frau auf offener Straße niedergestochen, vom Täter weiter verfolgt, vergewaltigt und hingemetztelt. Das Opfer ist eine Kellnerin auf dem Heimweg.
8. April 2017, 21:58
Der wenige Wochen später gefasste Täter ein Büroangestellter, Familienvater, Serieneinbrecher, Serienvergewaltiger und Serienmörder mit nekrophilen Obsessionen. Er wird zum Tode verurteilt, später wird daraus lebenslänglich mit Sicherungsverwahrung, und noch heute sitzt Winston Moseley, so heißt der Mann, im Gefängnis.
Dutzende Zeugen
"True crime", eine wahre Verbrechensgeschichte, und so abscheulich dieser Mord und die anderen Taten gewesen sein mögen - das ist nicht der Grund, warum der Tod der Kitty Genovese in die Kriminalgeschichte eingegangen ist. Aufgeschreckt von den Schreien und Hilferufen des Opfers soll es Dutzende Zeugen gegeben haben.
Zitat
Laut Polizeibericht waren es 38 Tatzeugen. 38 Menschen, Männer und Frauen, die das Martyrium von Kitty Genovese eine halbe Stunde lang aus der Ferne verfolgt haben. Schön im Warmen hinter ihren Fenstern. Keiner hat irgendetwas unternommen, um die arme Frau zu retten. Nicht mal zum Telefonhörer haben sie gegriffen. Um 3 Uhr 50 hat es schließlich einer geschafft, die Polizei zu rufen. Es war zu spät.
Seit dieser Märznacht 1964 gibt es in der Kriminologie die Begriffe "Genovese-Syndrom" oder "Bystander- (also "Zuschauer-)Effekt". Die Bezeichnung für ein Verhalten, bei dem es nicht einmal aus der sicheren Situation der eigenen vier Wände heraus zu einem minimalen Funken von Anteilnahme oder Zivilcourage gereicht hat.
Was für Nachbarn!
Didier Decoin, prominenter französischer Schriftsteller, Drehbuchautor und Goncourt-Preisträger, hat sich dieser Geschichte angenommen und auf höchst ausgeklügelte Weise ein dramaturgisch perfektes und stilistisch herausragendes schmales Buch über den Tod der Kitty Genovese und das Versagen der Nachbarschaft geschrieben.
Seine Hauptfiguren sind ein jüdisches Ehepaar aus jener Straße in Queens, wo sich das Verbrechen ereignet hat. Sie waren zu jener Zeit verreist, und jetzt rätseln sie, mit welchen Nachbarn sie eigentlich zusammen leben, und wie sie sich selbst verhalten hätten.
Decoin fügt diesen erzählerischen Strang mit Auszügen aus den Prozessprotokollen zusammen, und am Ende entsteht daraus nicht nur die spannende und in Details drastische Geschichte eines Kriminalfalls, sondern auch das erschütternde Zeit- und Sittenbild einer sogenannten "modernen" Gesellschaft, heruntergebrochen auf eine "neighbourhood" im New Yorker Stadtteil Queens; ein Stadtviertel, eine Nachbarschaft also.
Gefährliche Welt
Die wenigen Zeugen, die im Genovese-Prozess vor Gericht aussagen müssen, liefern ähnliche Erklärungen für ihr Nichtstun trotz der Hilfeschreie: ein streitendes Paar sei das gewesen; in Dinge, die einen nichts angingen, mische man sich auch nicht ein; es sei zu kalt gewesen, um auf der Straße nachzusehen.
Einer soll überhaupt das Radio lauter gedreht haben, um nichts mehr hören zu müssen...
Didier Decoin schließt sein Buch mit einem Zitat von Albert Einstein: "Die Welt ist ein gefährlicher Ort. Nicht wegen denen, die Böses tun, sondern wegen denen, die dabei zusehen und nichts tun, um es zu verhindern." Dem ist in der Tat nichts mehr hinzuzufügen.
service
Didier Decoin, "Der Tod der Kitty Genovese", aus dem Französischen übersetzt von Bettina Bach, Arche Verlag
http://www.arche-verlag.com/index.php?id=33&tx_fsvsgbooks_pi1[titel=Der%20Tod%20der%20Kitty%20Genovese&tx_fsvsgbooks_pi1isbn=3-7160-2660-3&tx_fsvsgbooks_pi1link=detail&cHash=edcb124669|Arche Verlag] - Der Tod der Kitty Genovese