Chronik einer Migration
Bis an die Grenzen
Bei der Lektüre dieses Buches fragt man sich immer wieder, wie groß die Verzweiflung, die Perspektive- und Hoffnungslosigkeit der jungen Afrikaner und Afrikanerinnen sein muss, dass sie sich auf diese Höllenreise durch die Sahara begeben, um in einer unbestimmten Zukunft im vermeintlich paradiesischen Europa einmal viel Geld zu verdienen.
27. April 2017, 15:40
Man fragt sich auch, weshalb die Gefahren, Entbehrungen und Qualen dieser Reise die Menschen nicht davon abschrecken, ihr Geld, ihre Zukunft und oft auch ihr Leben zu verlieren. Unser im europäischen Wohlstand herangewachsenes Vorstellungsvermögen scheint außerstande, die Dimension der Hoffnungslosigkeit zu erfassen, unter der Zigmillionen Jugendliche und Menschen mittleren Alters in Schwarzafrika leben. So groß und lähmend scheint ihre Verzweiflung zu sein, dass sie sich nicht einmal in einem Aufstand gegen das herrschende Unrechtssystem kanalisieren kann, wie es derzeit in der arabischen Welt an der Tagesordnung ist.
Kein besseres Leben mit Matura
Der Autor dieser Migrationschronik gibt seinem Protagonisten, der eigentlich er selbst ist, den Namen Alain. Es handelt sich um Fabien Didier Yene, aufgewachsen in der Ortschaft Ekombitié im Norden von Kamerun. Die Matura, die er in der Hauptstadt Yaoundé absolvierte, verhalf ihm zu keiner zufriedenstellenden Arbeit mit einem existenzsichernden Lohn.
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Die Slums haben Namen wie Bitam-bye, Dong-quata oder Torra-boras. Unsere Eltern haben dort vor etwa dreißig Jahren gebaut. Wir sind dort auf die Welt gekommen, aufgewachsen ohne Hoffnung auf ein besseres Leben. (...) Der Alltag um uns herum besteht aus Kriminalität, Schwarzhandel und Prostitution.
So beschreibt der Autor seinen Werdegang, der ihn schließlich zum Fluchtabenteuer nach Europa führen sollte. Man wird Dealer, nimmt Drogen. Dann nimmt das Leben seinen Lauf. Entweder man hat Glück, lässt sich ein schönes Haus bauen und geht mit schönen Mädchen aus. Oder man landet im Gefängnis und muss das Haus verkaufen, um den Richter zu bestechen.
Wohlstand in Europa
Der 20 Jahre alte Alain ist Tankwart und Vater eines dreijährigen Buben, so berichtet der Erzähler im ersten Teil des Buches. Und an seinem Arbeitsplatz lernt er die sogenannten "Urlauber" kennen, Landsleute, die es in Europa zu einem gewissen Wohlstand gebracht haben, den sie bei einem Besuch in der Heimat gebührend zur Schau stellen wollen. Etwa indem sie ein Auto kaufen oder mieten.
Alain ist zutiefst beeindruckt. Er erzählt seiner Mutter von seinen neuen Freunden, die alles tun wollen, damit er ein Visum zur Einreise nach Europa bekommt. Und er bringt sie so weit, für ihn einen Kredit von umgerechnet 1.300 Euro aufzunehmen, als Anzahlung für das Visum. Doch bei der erstbesten Gelegenheit verschwinden seine neuen Freunde mit dem Geld auf Nimmerwiedersehen.
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Der Himmel bricht über Alain zusammen, seine Gutgläubigkeit ist ihm zur Falle geworden. Er hat alles verloren: seine Arbeit, seine Familie, seine Freundin - für einen einzigen Satz mit drei Wörtern: Europa ist Europa. Aber sein Erfolgshunger und sein Stolz lassen ihn noch hoffen, eines Tages seine Familie von Frankreich oder von Belgien aus anzurufen.
Geld für Schlepper, Polizisten und Soldaten
Und so macht er sich auf die gefährliche Reise. Da ihm seine restliche Barschaft bald abgenommen wird, muss auch er zu solchen Mitteln greifen, um sich die Reise zu finanzieren. Betrug und Lüge sind an der Tagesordnung. Polizisten und Soldaten verlangen immer wieder Geld, die Schlepper nehmen ihnen in der endlosen Wüste noch den letzten Rest aus der Tasche, misshandeln die Männer, vergewaltigen die Frauen.
Auf einer langen Irrfahrt gelangt Fabien, der nunmehr seinen wirklichen Vornamen angenommen hat, schließlich über Tschad, Nigeria, Niger, Libyen und Algerien nach Marokko. Unterwegs lernt er so alles kennen, was die Erde an Grausamkeit für ihre Bewohner und Bewohnerinnen zu bieten hat. Aber auch Signale der Hoffnung. Zeichen von Hilfsbereitschaft, von Solidarität, von Zuneigung.
Wo immer es möglich ist, schließen sich die Flüchtlinge mit Angehörigen ihrer Herkunftsländer zusammen, bilden Ghettos, wie sie selbst diese nationalen Enklaven nennen, und kämpfen gegen die Gruppierungen anderer Länder um bessere Überlebensbedingungen auf der endlosen Flucht.
Spanische Enklave als Sprungbrett
Auf der Reise kristallisiert sich Melilla als Sprungbrett für den Eintritt ins gelobte Europa heraus. Melilla, eine der zwei spanischen Exklaven auf marokkanischem Territorium, wo Tausende afrikanischer Migranten und Migrantinnen versuchen, einen dreifachen Zaun zu überwinden und spanischen Boden zu betreten.
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Am Nachmittag zeigte ihnen der Führer von weitem den Wald, wo die Gruppe sich aufhalten würde, und auf der anderen Seite das große Melilla. Sie machten Rast, den Blick auf Spanien gerichtet, aßen und verjagten die Müdigkeit. Alle waren überzeugt, dass die letzte Etappe in erreichbare Nähe gerückt war. Sie lächelten wieder, die Hoffnung auf Freiheit und Sieg war ganz nahe. Afrika und sein Elend würden bald hinter ihnen liegen.
Immer neue Versuche
Immer wieder überfällt die marokkanische Polizei die Lager der Flüchtlinge, und dann heißt es rennen, so schnell es nur geht, um einer Festnahme und darauffolgender Abschiebung nach Algerien zu entgehen. Und immer wieder die Versuche, mit selbstgebastelten Leitern die Grenzzäune zu überwinden. Die marokkanische Polizei und die spanische Guardia Civil machen gemeinsam Jagd auf die Eindringlinge, schießen mit Gummikugeln oder auch scharfer Munition auf sie, die bei der panischen Flucht häufig im Stacheldraht hängen bleiben. Ein apokalyptisches Inferno.
Mehr als zwei Jahre verbringt Fabien im Grenzgebiet von Algerien und Marokko, versucht immer wieder, in die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta zu gelangen und wird immer wieder aufs Neue festgenommen, misshandelt, abgeschoben. Bis er schließlich aufgibt. Heute lebt Fabien Didier Yene aus Kamerun in der marokkanischen Hauptstadt Rabat, wo er sich an der Seite verschiedener Menschenrechtsorganisationen für die Rechte von Migranten und Migrantinnen, unter anderem für das Recht auf Reisefreiheit, einsetzt.
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Fabien Didier Yene, "Bis an die Grenzen. Chronik einer Migration", aus dem Französischen übersetzt von Beatriz Graf, Verlag Drava