Darwins größtes Dilemma

Der Ursprung der Schönheit

Der Argusfasan bereitete ihm Kopfzerbrechen. Charles Darwin konnte sich nicht erklären, wozu er so viel Aufwand betreibt für sein Prachtgefieder und dessen Zurschaustellung. Mit Natürlicher Selektion, mit bestmöglicher Anpassung des Organismus an die Umwelt, war das nicht in Einklang zu bringen.

Ein Vogel, der mühsam fliegt, schlecht getarnt und wenig behände erscheint, hat seine Schönheit offenbar teuer erkauft. Mit kleinen Skizzen versuchte Darwin, das Zustandekommen der "Tausend Augen" auf dem Federschmuck des Argusfasans wiederzugeben und die Übergänge festzuhalten von den einfachen Flecken bis zur perfekten Ausbildung der Augen.

Darwin glaubte damit die vielen kleinen Schritte der Evolution nachzuzeichnen, die die Bildung eines solchen Prachtgefieders erst ermöglicht haben - sein tieferer Sinn aber blieb ihm ein Rätsel.

Ein Spiel mit Möglichkeiten

"Nicht allein der Argusfasan mit seinen so übertrieben vielen Augen bereitete Darwin Alpträume", schreibt Josef H. Reichholf in seinem neuen Buch, "sondern eigentlich alles Auffällige, Bunte und Bizarre, das sich offenbar seinem Prinzip der Anpassung durch Natürliche Selektion widersetzte." Und darum geht es hier: Um das Auffällige, Bunte, von dem Unscheinbaren Abweichende, um den Ursprung der Schönheit bei Tier und Mensch.

"Was Darwin nicht wusste und was seine große Herausforderung war, um Schönheit zu verstehen, ist die Tatsache, dass die Lebewesen, vor allen Dingen die komplexer gebauten, nicht so eng angepasst sind an ihre Umwelt, wie Darwin meinte, und Spielräume buchstäblich vorhanden sind", sagt Reichholf: "Spielräume für das Spiel mit den Möglichkeiten. Eines der auffälligsten Spiele mit den Möglichkeiten ist das Prachtgefieder der Vögel und ganz besonders das Prachtgefieder jener Vögel wie Pfau oder Argusfasan, wo man sich überhaupt keinen Reim darauf machen kann, wie das noch mit natürlicher Auslese in Verbindung gebracht werden kann."

Schönheit, Sexualität und Evolution

In "Der Ursprung der Schönheit. Darwins größtes Dilemma" befasst sich der für unkonventionelle Interpretationen und gleichermaßen originelle wie streitbare Thesen bekannte Biologe Josef Reichholf mit Pfau und Argusfasan, mit Enten und Schwänen, Rothirsch und Elch, aber auch mit Affen und Menschen - und dabei vor allem mit dem Zusammenspiel von Schönheit, Sexualität und Evolution. Denn das Schöne ist keine bloße Laune der Natur.

"Das, was sich im Rahmen des Biologischen als schön erweist, hat Gründe, die sich auf zwei wichtige, ganz zentrale Ebenen beschränken lassen", meint Reichholf: "Einmal, dass ungestörte Entwicklungsabläufe zu symmetrischen oder entsprechend funktionierenden Strukturen geführt haben, die wir dann als schön empfinden. Und zweitens, dass Strukturen der Schönheit wirksam werden als äußere Kennzeichen für die Qualität eines Organismus, wenn es um die Fortpflanzung geht."

Die "Handicap-Theorie"

Einen Ausweg aus dem Dilemma der scheinbar nutzlosen, ja kontraproduktiven und der Natürlichen Selektion widersprechenden Schönheit von Argusfasan und Co. glaubte Darwin gefunden zu haben, als er sich bewusst gemacht hatte, dass es bei vielen Arten die Männchen sind, die auffällig, prächtig, mithin "schön" sind und diese Männchen verglichen mit den Weibchen in der Überzahl sind. Das heißt, die Weibchen können wählen – und bevorzugen Signale des Verschwenderischen. Darwin nannte das "Sexuelle Selektion".

Wirklich gelöst war damit das Problem freilich nicht. Setzt im Falle der Männchen die Sexuelle die Natürliche Selektion außer Kraft? Sind demnach nur die unscheinbareren Weibchen angepasst, die Männchen aber nicht?

Eine Lösung versprach lange nach Darwin die sogenannte "Handicap-Theorie" von Amotz Zahavi. Ein Pfau oder Fasan, der trotz auffälligem Gefieder und mächtigem Schwanz, trotz des Handicaps seiner Schönheit, Feinden nicht zum Opfer fällt, beweise gerade dadurch seine Fitness und wirke attraktiv auf das weibliche Geschlecht. Eine Theorie, die laut Reichholf gravierende Mängel hat.

Schönheit als biologische Notwendigkeit

Warum verringert das sogenannte Handicap nicht den Bestand der Männchen? Und warum sieht das Prachtgefieder der Hähne so einheitlich aus? Wie aber wählen die Weibchen, wenn alle Männchen gleich aussehen?

"Züchtet das Weibchen aus Jux und Tollerei dem Pfau so eine riesige Schleppe, die ihn, um Zahavis Konzept zu zitieren, eigentlich behindern müsste, denn so hat es ja auch Darwin gesehen?", fragt Reichholf. "Oder ist das innerhalb des Rahmens, innerhalb der Freiheit, den die sexuelle Selektion trotzdem bietet, eine von verschiedenen Möglichkeiten, die aber nicht nachteilig für das Männchen wird? Das ist der entscheidende Punkt. All das, was wir als schön empfinden, seien es Gefieder, Hirschgeweih oder Gesänge, sind eben nicht nachteilig für die Träger, aber aussagekräftig für die Weibchen, die die Wahl vornehmen."

Reichholf überrascht mit frappierenden Befunden. Nicht nur mit der Feststellung, dass das Prachtgefieder den Hahn nicht angreifbar macht, sondern schützt: Es tarnt im Dschungel, täuscht über die eigentliche Körpermitte und kann im Ernstfall durch eine sogenannte Schreckmauser abgeworfen werden. Das Prachtgefieder, die Schönheit, ist überdies eine biologische Notwendigkeit. Es wird aus körpereigenem Eiweiß gebildet und dient, wie die Balz, dem Abbau von Energieüberschüssen und damit einem ausgeglichenen Stoffwechsel. Die Männchen stecken exakt genauso viel Energie in Prachtkleid und Werbung wie die Weibchen in die Fortpflanzung.

"Wenn das Prachtgefieder ausgebildet wird, in kurzer Zeit, heißt das, dieses Männchen war wahrscheinlich besser als ausreichend ernährt, es konnte in der kurzen Zeit die Federn ausbilden und es hat dieses Prachtgefieder erhalten können", meint Reichholf. "Es blieb also auch fit. Und wenn es während der Balz das Gefieder zur Schau stellt, zeigt das, dass es die energetischen Ressourcen und Reserven weiterhin zur Verfügung hat, also auch im Moment vor der Paarung fit ist, nicht nur fit war, als das Gefieder ausgebildet wurde, sondern fit geblieben ist bis zur Verpaarung."

Signal der Fitness

"Bunte Federn, Balz und Gesang sind kein Selbstzweck", schreibt Reichholf. Ihre Schönheit signalisiert den Weibchen Gesundheit, oder, wie Darwin sagen würde, Fitness. Das gilt nicht nur für Vögel. Das mächtige Geweih des Hirschs dient der Attraktivität - und dem Energieverbrauch. Der Hirsch nämlich investiert in Geweih und Brunft genauso viel wie die Hirschkuh in die Kälber. Umgekehrt lässt sich für Arten, die kaum signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen, feststellen, dass hier die Männchen ihre Energie nicht in die Schönheit ihres Äußeren abführen, sondern in die gemeinsame Aufzucht.

"Singvogelarten, wo die Männchen bei der Jungenaufzucht intensiv mitbeteiligt sind, unterscheiden sich ja im Äußerlichen oft sehr wenig oder gar nicht", so Reichholf. "Nachtigallen zum Beispiel, oder die Feldlerche. Da ist es die Intensität des Gesangs, dass das Maß vermittelt, in welcher Kondition sich das Männchen befindet."

Weibliche Konkurrenz beim Menschen

Im letzten, gemeinsam mit Miki Sakamoto verfassten Teil des Buches wendet sich der Blick von der Tier- auf die Menschenwelt. Anders als in der Fauna ist es hier das weibliche Geschlecht, das Schönheit für sich reklamiert bzw. mit Schönheit buhlt. Auch hierfür gibt es einen biologischen Grund: Da Frauen durchschnittlich älter werden als Männer, ist das weibliche Geschlecht einerseits in der Überzahl, andererseits sind fruchtbare Frauen verglichen mit fruchtbaren Männern in der Minderheit.

Das bewirkt, so die These, eine heftige Konkurrenzsituation und damit eine starke Individualisierung und Schönheitsbetonung beim sogenannten schwachen Geschlecht. Anders als bei Pfau und Hirsch und Ente aber ist es beim Menschen nicht das Grelle, Bizarre und übertrieben Prächtige, was als "schön" gefällt, sondern im Gegenteil: das nur wenig vom Durchschnittlichen, vom mittleren Maß Abweichende.

"Wir haben an unserem Äußeren durchaus beides: Das Grundlegende, das die Prinzipien von Symmetrie, von Funktionieren des Körpers vorschreibt, von dem nur ganz geringfügig abgewichen werden darf. Und die Freiheit zum Variieren, wo dann das einzelne Gesicht, das vom Standard abweicht, überhaupt erst zur Person wird, die es uns ermöglicht, Individualität zu erkennen und mit Leben zu erfüllen", sagt Reichholf. "Wer ein absolut perfektes Gesicht hat, wird gesichtslos. Das heißt, er oder sie verliert Persönlichkeit. Und das ist aus meiner Sicht das zentrale Ergebnis der ganzen Überlegung: Die Variation, die Darwin in seiner Bedeutung für das Leben, für die Evolution erkannt hat, ist gleichzeitig auch die Grundlage für die Individualität und damit für das, was uns zum Menschen macht."

Schönheit als Produkt der Freiheit

Darwins Kopfschmerzen wegen des Argusfasans hatten gute Gründe: Die Natürliche Selektion kriegt dessen Schönheit nicht zu fassen. Darwin, sagt Reichholf, wusste nichts von Genetik und Ökologie - ganz einfach, weil er zu seiner Zeit davon gar nichts wissen konnte. Und so unterschätzte er das freie Spiel der Möglichkeiten, die Autonomie der Organismen, zugunsten des Drucks der Anpassung.

Schönheit aber ist ein Produkt der Freiheit, ist Variation und nicht Anpassung. Das klar gemacht zu haben ist vielleicht das größte Verdienst von Reichholfs sehr anschaulich geschriebener, höchst anregender Studie, die mit einer Fülle von erstaunlichen Einsichten aufwartet, die zum Nachdenken und manchmal vielleicht auch zum Widerspruch einladen.

Hat Schönheit immer einen sexuellen Ursprung, ist sie ihrem Wesen nach nichts anderes als physische Attraktivität? Ist sie stets eine Art Selbstinszenierung, oder gibt es auch eine passive Schönheit? Ist es tatsächlich so, dass Schönheit immer Gesundheit indiziert? Gibt es überhaupt "das Schöne" – oder nur arten- und epochenspezifische Ausprägungen von Schönheit?

"Sich wandelnde Schönheitsideale sind kein Gegensatz zu zeitlos Schönem", schreibt Josef Reichholf, "sondern Attribute der Veränderlichkeit des Lebens. (...) Wie dem Leben selbst können wir uns seinen Ausdrucksformen zwar forschend nähern, sie aber nicht absolut und vollständig erfassen."

mehr zu Darwin in

oe1.ORF.at - Projekt Darwin

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Josef H. Reichholf, "Der Ursprung der Schönheit. Darwins größtes Dilemma", Verlag C. H. Beck

C. H. Beck - Der Ursprung der Schönheit
Wikipedia - Argusfasan

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