Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933

Warum die Deutschen? Warum die Juden?

Es braucht Mut, nach sechs Jahrzehnten zeithistorischer Forschung eine der Hauptfragen noch einmal zu stellen: Warum entwickelte sich gerade in Deutschland jener zum Mord bereite Judenhass? Welche besonderen Umstände radikalisierten die deutsche Politik so?

Fragen, die tatsächlich zum Verständnis des Holocaust unerlässlich sind, jedoch auch Fragen, für die bereits Antworten im Ausmaß ganzer Bibliotheken zur Verfügung stehen. Götz Aly, erfahrener Historiker mehrerer grundlegender Bücher zum Nationalsozialismus, wird sich daran messen lassen müssen, ob er tatsächlich neue Erklärungsansätze anbieten kann. Man darf jedoch davon ausgehen, dass Götz Aly die neuerliche Frage "Warum die Deutschen?" nicht zufällig stellt, sondern die bisherigen Deutungsversuche für ergänzungsbedürftig hält.

Antisemitismus bereits vor Nationalsozialismus

So konzentriert sich Götz Aly im ersten Teil des Buches auf die Entwicklung des Antisemitismus vor dem Nationalsozialismus. Er belegt mit vielen Beispielen, wie rasant die jüdische Emanzipation nach dem Fall der Ghettomauern tatsächlich verlief.

Als Folge ihrer jahrhundertelangen Rechtlosigkeit zeigten Juden im Unterschied zur deutschen Mehrheitsbevölkerung einen prozentuell viel höheren Bildungs- und Aufstiegswillen. Sie verstanden, dass nur die Prinzipien der Moderne ihnen zur Befreiung und Integration verhalfen und waren bereit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Daher wussten sie den sozialen Wandel geschickter zu nutzen als viele Deutsche, die dem Modernisierungsprozess ängstlich und abwehrend gegenüber standen, sich stattdessen auf ihre Traditionen beriefen und diese zu einem nationalistischen Mythos umformulierten.

Juden erfolgreicher als andere Deutsche

Gerade die jüdischen Bevölkerungsteile reüssierten in den neuen Berufssparten als Selbständige, Angestellte, aber auch als Journalisten, Wissenschaftler und Politiker - mit dem Ergebnis, dass vor dem Ersten Weltkrieg deutsche Juden tatsächlich im Durchschnitt das fünffache Einkommen von Christen erzielten. Dementsprechend hoch waren ihre Steuerleistungen, dementsprechend gehässig die Reaktionen ihrer weniger erfolgreichen deutschen Mitbürger.

So lautet Götz Alys nicht gerade neue These, dass der wirtschaftliche Aufschwung der Juden den Grund für den manifesten Antisemitismus abgegeben hat. Doch dies erklärt die Bereitschaft zum späteren Mord noch nicht.

Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls

Der Autor bleibt bei dieser Feststellung nicht stehen, sondern zeigt im zweiten Teil, wie dieser wirtschaftliche Erfolg einer noch immer gesamtgesellschaftlich kleinen Bevölkerungsgruppe in den unterschiedlichen politischen Lagern vor allem aber zur Kompensation des Minderwertigkeitsgefühles einer verspäteten Nation missbraucht wurde.

In anderen Ländern, wo weitere Bevölkerungsteile die Modernisierungswellen mittrugen, dadurch stabile Institutionen und einen liberalen Staat schufen, existierten ähnliche antisemitische Vorurteile, selbst ähnliche pseudowissenschaftliche Rassismen, doch erreichten sie keine Mehrheiten und wurden daher nicht politikfähig.

In Deutschland exponierten sich selbst Reformer und Vorreiter freiheitlicher Ideen - also Menschen, die für die Emanzipation der Juden eintraten - als Judengegner, indem sie gleichzeitig das unheilvolle Konzept einer Nation als Einheit von geschichtlicher Herkunft, Religion und Sprache schmiedeten, die fremde Eindringlinge ausschloss.

Antiliberale Strömungen

Diese kollektivistischen politischen Ideologien - und hier werden korrekterweise auch Sozialdemokraten und Kommunisten miteinbezogen - basierten in Deutschland zudem auf starken antiliberalen Strömungen, die mit dem Sieg der liberalen Demokratien im Ersten Weltkrieg, der Kriegsschuldfrage und den Reparationsleistungen weiter angeheizt wurden.

Erklärung des passiven Antisemitismus

Neid und Missgunst mögen den Volksantisemitismus in seiner sozialpsychologischen Dimension bis zu einem bestimmten Grad verständlich machen. Götz Aly leistet hier einen weiteren wertvollen Beitrag zur Erklärung des passiven Antisemitismus, der den Nationalsozialisten den Spielraum für ihre mörderischen Pläne eröffnete. Doch weder sind diese Thesen neu - sie werden nur besser belegt -, noch bringt der Autor ein für Gesamtdeutschland schlüssiges Material, sondern beschränkt sich auf die Aussagen einiger zwar relevanter, aber nur punktuell aussagekräftiger Intellektueller.

Eine wirkliche Neudeutung kann er nicht leisten. Die zwar solide und gut begründete Studie erweckt eher den Eindruck eines Nebenproduktes in der Verwertung von Materialien, die der Autor im Zuge anderer Studien bearbeitet und nun ausgewertet hat.

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Götz Aly, "Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933", S. Fischer Verlag

S. Fischer - Götz Aly