Kultursymposium am Schiff

EU-gefördertes Projekt "Atlantis"

An einem ungewöhnlichen Ort hat im Juli ein internationales Symposium stattgefunden: An Bord eines bulgarischen Frachtschiffes trafen sich Künstler, Kuratorinnen, Denkerinnen und Kulturwissenschafter, um in drei Tagen das Schwarze Meer zu überqueren.

Im Rahmen des von der EU geförderten Vernetzungsprojektes "Atlantis" bot das Symposium "Fluid Ground" den Teilnehmern die Möglichkeit, sich auszutauschen, gemeinsame Projekte zu besprechen und etwas über den Kulturraum des Schwarzen Meeres zu erfahren. Mit den Anrainerländern Rumänien, Bulgarien, der Türkei, Georgien, Russland und der Ukraine ist dieser Raum alles andere als homogen - und gerade das macht die Gegend auch in kultureller Hinsicht spannend, ganz abgesehen von wirtschaftlichen Interessen, die mit dem Schwarzen Meer verbunden sind.

Kulturjournal, 18.08.2011

"Die Helden von Sewastopol"

Das Schiff mit dem Namen "Die Helden von Sewastopol" ist 170 Meter lang und befördert mit Gütern gefüllte Container, LKWs und Zugwaggons. Für Passagiere gibt es ein paar Mehrbett-Kabinen, doch treten nur wenige Reisende die Überfahrt von Bulgarien nach Georgien, 1.100 Kilometer quer übers Schwarze Meer, mit dem Frachtschiff an. Von der auf Kreuzfahrtschiffen angebotenen Unterhaltung gibt es hier nichts, keine Shops und keinen Swimming Pool, und die Abfahrts- und Ankunftszeiten hängen von der Fracht, vom Wetter und von nur Zollbeamten bekannten Umständen ab.

Genau das fand der Organisator des Symposiums "Fluid Ground", Jakob Racek, reizvoll und ließ sich von dem ehrgeizigen Vorhaben, eine Konferenz auf dem offenen Meer abzuhalten, auch nicht abbringen, als eine geplante Probefahrt zur Vorbereitung scheiterte. Dass mit der in Seminarhotels üblichen Infrastruktur, von Flipchart über Snacks für die Kaffeepause bis zum runden Tisch, nicht zu rechnen ist, war klar. Und es war auch nicht notwendig, denn das Schiff selbst und die ungewohnte Situation an Bord wurden zu Themen und Motiven des Symposiums, ebenso wie die Seefahrt, der Zustand der Ortlosigkeit und das Schwarze Meer als Transportweg und als Kulturraum.

Künstlerprojekte in drei Tagen an Bord

Es sei ihm wichtig gewesen, auch den Konferenzort selbst in die Vorträge einzubeziehen, die Mikroökonomie des Frachters zu erforschen. Daher lud Racek nicht nur Theoretiker und Kuratoren ein, sondern auch Künstlerinnen und Künstlergruppen, die innerhalb der drei Tage an Bord Arbeiten entwickelten. Das Duo Gangart aus Wien, namentlich Simonetta Ferfoglia und Heinrich Pichler, befasste sich mit der Arbeitswelt am Meer. Details zu Arbeitsstrukturen, zu Handelskorridoren und Eigentumsverhältnissen der Frachtschiffe erfuhren sie in Gesprächen mit Besatzungsmitgliedern aller Rangordnungen, vom obersten Offizier bis zum Kadetten.

Eine Leinwand mit Seemannssprüchen

Durch ihr Vorhaben, die Choreographie der Arbeitsbewegungen an Bord zu analysieren, lernte auch die Berliner Künstlerin Nadja Abt das mehrstöckige Schiff auf allen räumlichen Ebenen kennen, vom lauten Maschinenraum über die Schiffsküche bis zur Brücke, wo Kapitän und Offiziere die Route verfolgen.

Die Architektur des Schiffes sieht eine räumliche Trennung zwischen der Besatzung und den Passagieren vor: Man schläft und isst auf verschiedenen Stockwerken, und im Normalfall haben Reisende und Arbeitende keinen Kontakt. Diese Trennung aufzuweichen, war ein unbeabsichtigter Nebeneffekt von Nadja Abts Arbeit: "Gestern kam der Älteste der Besatzung zu uns und hat sich erkundigt, wie es geht, und wann wir wieder runter zu Besuch kommen. Ich glaube, das gute Verhältnis zu den Menschen, die hier arbeiten, basiert auf dem Respekt, den man gegenseitig entgegenbringt. Es ist ganz gut gelaufen."

Eigentlich hatte Nadja Abt nur eine Notation der zurückgelegten Wege und Arbeitsschritte am Schiff erstellen wollen, heraus kam jedoch eine mit Zeichnungen, Unterschriften und Widmungen befüllte Leinwand, ein in einer fast Happening-artigen, spätabendlichen Situation produziertes Gemeinschaftskunstwerk der 26-köpfigen Besatzung.

Der Weg ist das Ziel

Es gab ein dichtes Programm an künstlerischen Präsentationen, Vorträgen und nachfolgenden Diskussionen. Es gab aber - trotz des beschränkten Raumes - auch genug Zeit und Freiraum, in der von den Organisatoren mitgebrachten Handbibliothek zu lesen, Schifferl-versenken zu spielen, oder, gegebenenfalls, die Seekrankheit auszukurieren. Besonders nachdem bekannt wurde, dass die Ankunft im Zielhafen Batumi in Georgien verschoben wird. Einen Tag lang schaukelte der riesige Frachter, mit abgedrehten Maschinen, auf dem Wasser.

Kein Land unter den Füßen

Inmitten des Meeres, ohne Blick aufs Festland und ohne Kontakt zur Außenwelt, stellt sich neben einem ungewohnten Raumgefühl auch eine andere Zeitlichkeit ein, wie die ukrainische Reiseteilnehmerin Anastasia Zhivkova beschreibt: "Ich beobachte, wie alle von Tag zu Tag entspannter werden. Man spricht und bewegt sich langsamer, man hat keine Eile und wird nicht durch Anrufe oder E-Mails gestört. Vom Weltgeschehen sind wir isoliert, und Nachrichten verbreiten sich hier nicht über Computer oder Mobiltelefone, sondern im persönlichen Gespräch. Man kommt über Smalltalk in Kontakt, unterhält sich etwa darüber, wie das Meer aussieht, oder ob jemand Delphine oder die Küstenlinie erblickt hat. Daraus ergeben sich Gespräche, für die man alle Zeit der Welt hat. Ich empfinde das hier als wunderbare, archaische Situation."

Anastasia Zhivkova lebt als Kuratorin, Kritikerin und Kulturmanagerin in Kiew in der Ukraine. Obwohl dies ihre erste Schifffahrt am Schwarzen Meer ist, sind ihr die angrenzenden Regionen, vor allem die zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim, von Urlaubsaufenthalten vertraut. Ihre ersten Erinnerungen an die sommerlichen Reisen ans Schwarze Meer gehen in die Kindheit zurück. Nach der AKW-Katastrophe von Tschernobyl hat sie ihre Mutter vom verseuchten Kiew in den gesunden Süden gebracht.

In der Mitte der Peripherie

Viele der "Fluid Ground"-Teilnehmer teilen Erinnerungen von der Schwarzmeerküste als Urlaubsidylle. Ob die Region des Schwarzen Meeres, also auch die südkaukasischen Länder Georgien, Armenien und Aserbeidschan zu Europa gehört oder nicht, wo Asien aufhört und Europa beginnt, was das Zentrum Europas ist und was der Rand - Ansichten über diese Fragen ändern sich je nach Standpunkt, argumentiert Susanna Gyulamiryan. Tatsache sei jedoch, dass sich in den Köpfen der Westeuropäer das Bild vom unterentwickelten, ordnungslosen Osten beständig hält.

Es gilt daher, die Psychogeografie Europas zu erforschen, die mentalen Landkarten neu zu schreiben, also gewohnte Bilder zu widerlegen und dezentralisierte Denkmodelle zu entwickeln. Das ist eines der Ziele des Projekts "Atlantis", im Rahmen dessen das Symposium auf dem deterritorialen Raum des Schwarzen Meeres stattgefunden hat. Von der EU mitfinanziert, wird das Projekt von der Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg koordiniert. Deren Leiterin, Inka Thunecke aus Potsdam, will mit "Atlantis" helfen, die Grenzen in den Köpfen abzubauen.

Beinahe Institutionen

Mit einer Auftaktveranstaltung zu "Imaginativen Geografien" während der diesjährigen Eröffnung der Biennale di Venezia, stellte sich das Netzwerk "Atlantis" der Öffentlichkeit vor. Partner in dem Netzwerk sind Organisationen aus den Ländern Moldawien, Slowakei, Bulgarien, Georgien und Armenien. Es handelt sich dabei um kleine, sehr aktive und im lokalen Kunstumfeld anerkannte Initiativen engagierter Künstler und Kunstmanager, erklärt der Kurator Jakob Racek, nicht jedoch um staatlich abgesicherte Museen. Racek vertritt die Organisation Art Today aus Plovdiv.

Ein anderes Beispiel für Atlantis-Partner ist das Kollektiv Vector, das im rumänischen Iasi die international anerkannte Periferic Biennale veranstaltet. Oder auch das Art and Cultural Studies Laboratory in Jerewan. Dessen Leiterin, Susanna Gyulamiryan, erzählt, dass im Kunstbereich zwischen Osten und Westen der Austausch zwar einigermaßen funktioniert, dass aber zwischen den Ländern des ehemaligen Ostblocks sehr wenig passiert:

"Wir erfahren keine strukturelle oder finanzielle Unterstützung, um unser Residency-Programm in unsere Nachbarländer ausbauen zu können. Wir bekommen viele Bewerbungen von Künstlern aus westeuropäischen Ländern, und für diese Künstler ist es möglich, Förderungen oder Sponsoren in ihrer Heimat zu finden - in den post-sowjetischen Ländern gibt es ein solches System jedoch nicht, Stiftungen oder Auslandskulturförderung, die Reise- und Aufenthaltskosten übernehmen. Es ist das erste Mal, dass wir mit Ländern aus dem ehemaligen Ostblock oder der Sowjetunion im Rahmen von 'Atlantis' einen konkreten Austausch haben."

Türöffner Schengen-Visum

Grund dafür sind auch die Reisebeschränkungen, denen Menschen ohne Schengen-Visum unterworfen sind. So ist es für jemanden aus Georgien keineswegs einfach, in die EU-Länder Bulgarien oder Rumänien einzureisen. Auch die Reiseverbindungen sind kompliziert: Manche Teilnehmer des Symposiums hatten umständliche Anreisen zum Abfahrtshafen zurückzulegen - eine Nacht im Bus durch die Türkei, dreimal auf Flughäfen umsteigen, zehn Stunden am Bahnhof warten. Das macht gemeinsame Projekte, wie Ausstellungen oder Symposien, zu organisatorischer Schwerarbeit - und die Nachbarschaft am Schwarzen Meer zu einer imaginierten, aber noch nicht gelebten Wirklichkeit.