Reiseerzählung von Ilja Ilf und Jewgenij Petrow
Das eingeschossige Amerika
Dass Vladimir Nabokov, eine fast unfehlbare Autorität was Literatur angeht, das Autorenduo Ilf/Petrow schätze und zu den wenigen wirklichen Schriftstellern zählte, die Sowjet-Russland hervorgebrachte, verwundert nicht: Auch in der monumentalen Reiseerzählung "Das eingeschossige Amerika" finden sich Sätze, bei denen man alle ideologischen Einwände vergisst.
8. April 2017, 21:58
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New York ruhte, und Millionen Glühbirnen wachten über seinen Schlaf.
Polizisten treiben die fauchende Herde der Automobile die Avenues entlang.
Die Würstchen tun uns leid wie Katzen auf einer Ausstellung.
Nur - wäre es denn so einfach! Die Verstrickungen, in denen sich die beiden sowjetischen Chefsatiriker der 1930er Jahre bewegen, sind komplizierter, als dass man es bei bloß ästhetischer Betrachtung belassen könnte. Als sie im Herbst 1935 zu einer viermonatigen Tour ins Land des Klassengegners aufbrechen, hat das Paradies der Werktätigen gerade den Wahnsinn des ersten Fünfjahresplanes von Entkulakisierung, Hunger und Terror halbwegs hinter sich gebracht: Und als die USA-Berichte von Ilf und Petrow 1936 in der "Prawda" erscheinen, ziehen die Vorboten des "Großen Terrors" schon herauf. Kurz gesagt: Amerika hatte es wirklich besser!
Lob für Zöllner
Ilf/Petrow fahren mit dem Zug über Polen, die Tschechoslowakei und Österreich nach Frankreich. Nach einer Woche auf der "Normandie" kommen sie in New York an. Es beginnt mit einem Loblied auf die amerikanischen Zollbeamten, auf deren Korrektheit (ein Lob, das in der Folge viele Male wiederholt wird), auf das Service in der neuen Welt. Und natürlich sind sie begeistert über New Yorks Wolkenkratzer:
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Die zweiunddreißigste Etage unseres Backsteinhotels verschwand im rötlichen Nachthimmel.
Der Quer- und Längsschnitt durch Amerika und seine Gesellschaft ist mit unendlich vielen kleinen und großen Beobachtungen gespickt: Fenster macht man hier auf, in dem man sie wie in einem Eisenbahnwaggon nach oben schiebt; die Flipperautomaten sind ebenso neu wie die Empfehlungsschreiben der beiden Reisenden umfangreich.
Werbung, Werbung, Werbung
Es folgen 25 Staaten, hundert Städte, 10.000 Meilen Autofahrt. Ilf/Petrow können weder Englisch noch Autofahren - Fahrer, Dolmetscher und Reisebegleiter sind ein gewisser Mister Adams und seine Gattin, zwei Freunde der Sowjetunion. Dafür sind die beiden Odessiten umso neugieriger: Auf den Direktor des Madison Square Gardens, oder jenen des New Yorker Gefängnisses auf Sing-Sing. Dass sie selbst erst kürzlich an einer schändlichen propagandistischen Schriftstellerreise in den Gulag am Weißmeerkanal teilgenommen hatten, bleibt unerwähnt, als man über die Fortschrittlichkeit von Strafsystemen und den elektrischen Stuhl diskutiert.
Hemingway lädt zu sich nach Florida ein, Henry Ford predigt in seinem Automuseum über die Selbstversorgung seiner Arbeiter; es folgen Indiander-Reservate - und natürlich steht überall Werbung herum. Ohne diese könnten die Amerikaner offenbar nicht leben - wären die Werbetafeln eines Morgens verschwunden, wüssten sie vermutlich nicht mehr weiter und sie müssten sich fragen:
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Welche Zigaretten sollen wir rauchen? In welchem Geschäft unsere Kleidung kaufen? Mit welchem Getränk unseren Durst stillen - mit Coca Cola oder Ginger Ale? Welchen Whiskey sollen wir trinken - White Horse oder Johny Walker?
Ganz können sich die beiden Fortschrittsenthusiasten selbst der Werbung auch nicht entziehen: Von Mister Ripley, dem Abteilungsleiter für Publicity bei der General Electric Company sind sie begeistert. Der führt nämlich ein "elektrisches Haus" vor: Es gibt dort einen Elektroherd, der Herd besitzt einen Tellerwärmer, es gibt einen elektrischen Geschirrspüler, eine Höhensonne, einen Staubsauger, einen Rasierapparat, eine Waschmaschine, sowie eine Bügelpresse - und alles wird mit Strom betrieben! Kurz: Für Ilf/Petrow ist das kein einfaches Haus der Werbung, sondern ein "Haus der Wissenschaft". Der Schluss daraus lautet folgendermaßen:
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Die heutige amerikanische Technik ist unvergleichlich höher entwickelt als das amerikanische Gesellschaftssystem.
Von wegen "Kultur"
In Chicago wird geschossen, mitten in der Stadt findet man neben Wolkenkratzern Slums. Ein Konzert von Fritz Kreisler gibt endlich Anlass zu einer kleinen Zwischenabrechnung mit den Mäzenen der Kultur - den "Fleisch- und Kupferkönigen, den Kaugummiprinzen und Dollarprinzessinnen".
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Die Bourgeoisie hat dem Volk die Kunst geraubt. Aber sie will das Geraubte nicht einmal erhalten.
Zu diesem Urteil gelangen Ilf/Petrow, weil das Publikum nach dem Konzert nicht in stundenlangen Applaus ausbricht, sondern scheinbar unberührt aufsteht und sogleich den Konzertsaal verlässt.
Mit Autostoppern unterwegs
Eine der Lieblingsbeschäftigungen der Reisenden ist das Gespräch mit Autostoppern, die bereitwillig mitgenommen werden: ein Marinesoldat, der im Ersten Weltkrieg in Frankreich gekämpft hatte, macht sich zum Beispiel keinerlei Illusionen über die Wahrheit des amerikanischen Kapitalismus.
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"Vor kurzem haben wir in Nikaragua gekämpft. Glauben Sie, ich weiß nicht, dass wir das nicht im Interesse des Staates, sondern der United Fruit getan haben? In der Flotte redet man deshalb auch nur vom Bananenkrieg. Aber wenn man mir befiehlt, in den Krieg zu gehen, dann gehe ich. Ich bin Soldat und muss gehorchen."
Ein Brot wie Watte
In Santa Fe gibt es statt des üblichen Automatenfutters und der "standardisierten, nummerierte Kost mit Breakfast 1 und Dinner 2" endlich einmal richtiges Essen; auch wenn hier das Brot wie überall nach nichts, das heißt nach Watte schmeckt. Mit dem Rio Grande und einem touristisch hergerichteten Indianer-Dorf im Reservat kommt der eigentliche Höhepunkt der Reise näher: Nichts fasziniert Ilf/Petrow so sehr wie amerikanische Natur, die Wüste und die Straßen durch die Wüste.
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Es gibt wohl kaum etwas Grandioseres und Herrlicheres auf der Welt als die amerikanische Wüste. Wir durchfuhren sie eine ganze Woche lang und konnten uns nicht daran satt sehen.
Selbst die Tankstellen wirkten in der Wüste "wie stolze Denkmäler der Kraft des Menschen." Dieses Erlebnis wird nur noch durch die "Scenic Road" am Grand Canyon gesteigert. Natur und Technik sind hier, mit den arrangierten Ausblicken auf die Urzeit-Landschaft, auf perfekte Weise miteinander verschmolzen.
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Das ist amerikanisches Service. Dienstleistung auf höchstem Niveau. Sie müssen nicht auf Felsen klettern, um den besten Aussichtspunkt zu finden. Er wird ihnen ins Auto geliefert. Deshalb kaufen sie Autos, kaufen sie Benzin und kaufen sie Öl!
Begeisterung für Staudämme
Am Hoover-Damm, dem damaligen Boulder-Damm, treffen sie Mister Thompson, den Chefingenieur von General Electric. Der Mann ist "Weltmeister im Aufbau elektrischer Maschinen": In der Sowjetunion hat er die Turbinen am Dnjepr-Staudamm installiert, und Boulder, der damals größte Staudamm der Welt, ist sein Werk. Ilf/Petrow überschlagen sich vor Begeisterung:
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Zwischen den beiden von der Natur geschaffenen Wänden des Canyons wurde von Menschenhand eine dritte Wand aus Stahlbeton errichtet, die dem Fluss den Weg versperrt. Sie bildet einen Halbkreis und erinnert an einen zu Stein gewordenen Wasserfall.
Allein - auch hier werden die Werktätigen, die Ingenieure und Arbeiter um ihren Ruhm gebracht, für Ilf/Petrow die offenbar einzige wirklich Form der Entlohnung. Niemand kennt die Namen der Erbauer, Ruhm ist in Amerika Werbung, also ein Ware: Und wie jede Ware bringt sie nicht dem Profit, der sie hergestellt hat, sondern dem, der mit ihr Handel treibt.
Mainstream, Kitsch und Kommerz
Der Grundkurs in Marxismus und Entfremdungstheorie setzt sich in Hollywood fort: Ilf/Petrow, selbst Drehbuchautoren bei sowjetischen Großproduktionen, sehen drei Kapitel lang nur Mainstream, Kitsch und Kommerz. Die Kinoindustrie walze alles nieder.
Ansonsten fallen ihnen am Pazifik "Palmen, Bäume, Mädchen in Röcken und Mädchen in Hosen" auf. Nach einem Kurzausflug nach Mexiko samt Stierkampf, einer Begegnung mit einer Predigerin der New Science Church und einem Treffen mit Upton Sinclair führt die Reise zurück nach New York. Natürlich noch über die Südstaaten und über einen kritischen Diskurs zur sogenannten "Negerfrage". Das dabei angestimmte Loblied würde heute nicht einmal mehr als "positive Diskriminierung" durchgehen - damals sprach man internationalistisch so: "Aber Neger sind talentiert, lieben die Natur, Neger sind neugierig" usw.
Zuletzt wird das "Einstöckige Amerika" für den heutigen Leser vollends verquer, um es freundlich zu sagen. Amerika sei alles in allem interessant, leben möchte man dort aber nicht. Und das schon aus einem einfachen Grund:
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Amerika weiß nicht, was morgen sein wird. Wir wissen und können mit einer gewissen Exaktheit sagen, was mit uns in fünf oder zehn Jahren sein wird.
Dass in der Sowjetunion schon zwei Jahre später Stalins "Großer Terror" ausbricht, erfährt zumindest Ilja Ilf nicht mehr, der 1937 an Tuberkulose stirbt. Jewgenij Petrow wird noch eine abstruse Utopie mit dem Titel "Reise in das Land des Kommunismus" beginnen und unvollendet hinterlassen: Er stirbt im Zweiten Weltkrieg als Zeitungs-Korrespondent.
"Das einstöckige Amerika" ist ein Kuriosum, warum es auf Deutsch unkommentiert erscheint, ist ein Rätsel - da hätten die beiden Satiriker Ilf und Petrow, die bisweilen auch als Autorenduo "Tolstojewskij" auftraten, ein wenig mehr verdient. Und abschließend: Die Auswahl aus den mehr als tausend Fotos, die Ilja Ilf während der USA-Reise gemacht hat, ist interessant; und die angefügten Briefe der beiden an Ehefrauen und Kinder bieten tatsächlich ein lebendiges Amerikabild.
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Ilja Ilf, Jewgenij Petrow, "Das eingeschossige Amerika. Eine Reiseerzählung", aus dem Russischen übersetzt von Helmut Ettinger, Eichborn Verlag
Eichborn - Das eingeschossige Amerika