Richard Powers' Debütroman
Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz
Ein Mann will sich die Wartezeit vertreiben und geht in ein Museum. Dort sieht er zufällig ein fast 100 Jahre altes Foto mit drei jungen Burschen auf einem matschigen Feldweg und nichts in seinem Leben ist so, wie es vorher war. Das Foto hat eine magische Wirkung auf ihn, er sieht sich selbst darin und sein ganzes Jahrhundert.
8. April 2017, 21:58
Ein Mann will sich die Wartezeit vertreiben und geht in ein Museum. Dort sieht er zufällig ein fast 100 Jahre altes Foto mit drei jungen Burschen auf einem matschigen Feldweg und nichts in seinem Leben ist so, wie es vorher war. Das Foto hat eine magische Wirkung auf ihn, er sieht sich selbst darin und sein ganzes Jahrhundert.
Das "Antlitz des ganzen Jahrhunderts"
In seinem 1985 erschienenen Debüt "Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz" geht es um ein altes Schwarz-Weiß-Foto in einem Detroiter Museum. 1914 geschossen, sollte es Teil eines epochalen Katalogs mit dem Titel "Menschen des 20. Jahrhunderts" werden. Der Fotograf war ein Deutscher aus kleinen Verhältnissen: August Sander.
Der Betrachter, von Powers als P. eingeführt, ist wie vom Donner gerührt, als er das Foto in den 1980er Jahren erblickt. Er meint, das Antlitz des ganzen Jahrhunderts vor sich zu sehen. Überdies fühlt er mit dem Mittleren der drei Männer eine gewisse Ähnlichkeit. Vielleicht deshalb glaubt er, dass das Foto ein Geheimnis bergen müsse, dass es eine Botschaft bereithalte, nur für ihn bestimmt.
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs
Der zweite Erzählstrang imaginiert das Leben der drei Bauern, Powers nennt sie Adolphe, Peter und Hubert, wie sie in einem rheinländischen Dorf noch zum Tanz gehen, aber in den folgenden Monaten in den Malstrom des Ersten Weltkriegs geraten.
Dritter Erzählstrang: noch ein Peter. Dieser ist Redakteur in einem Magazin für technische Neuerungen in Boston. Bei einem Blick aus dem 8. Stock seines Bürofensters sieht er eine altmodisch gekleidete Rothaarige, die ihm nicht mehr aus dem Kopf geht. Nach einer kleinen Odyssee findet er sie wieder: auf dem Programm-Plakat eines Theaters. Sie ist Schauspielerin und führt eine Sarah-Bernhardt-Revue auf. Am Ende schenkt die Schauspielerin Peter Mays ein Foto, das während der Revue eingeblendet worden war. Darauf Henry Ford, wie er seinen Erben umarmt. Dieser Erbe ist Peter Mays wie aus dem Gesicht geschnitten.
Gesetze der Quantenphysik
Powers flicht die drei Erzählstränge ineinander, nicht nur die gleichen Namen der Hauptpersonen weisen auf Bezüge, sondern auch wiederkehrende Motive: Fotos, die eine Botschaft enthalten, und wiederkehrende Themen: Der Betrachter verändert den Gegenstand - ein Gesetz aus der Quantenphysik. Powers demonstriert, dass es quasi überall gültig ist. Beim Filme- und Fotos-Betrachten und beim -Herstellen, bei der Entwicklung des Ich, beim Lesen und Schreiben eines Romans, und wenn ein Journalist seinen Beitrag schreibt ebenfalls.
"Drei Männer auf dem Weg zum Tanz" ist facticious fiction. Ein Begriff, den Richard Powers erfunden hat. Aber nach wie vor gilt es als fragwürdig, wenn Schriftsteller die Grenze überschreiten und schwierige wissenschaftliche Themen in Romanen aufarbeiten. Powers beschreibt die Stimmung zwischen Wissenschaftlern und Romanciers so:
"Ja, da gibt es eine gewisse Feindseligkeit. Aber ich war schon immer amüsiert und auch erstaunt darüber, dass Literatur und Wissenschaft als zwei derart voneinander getrennte Welten gesehen werden. Literatur untersucht, wer wir sind und wo wir sind. Aber ich kann mir niemanden vorstellen, der leugnet, dass auch Wissenschaften, nämlich das, was wir über die Welt herausbekommen, welche Technologien wir entwickelt und erfunden haben, an den Antworten auf diese Fragen beteiligt sind. Man kann keine Geschichte über die Gegenwart erzählen, ohne ins Zentrum der Geschichte die radikalen Veränderungen in unserer Beziehung zu Zeit, Raum und Materie zu stellen, die die Entwicklung der Naturwissenschaft mit sich gebracht hat."
Literatur als "Domäne für Generalisten"
Ob in seinen Romanen über Informatik, Neurologie oder Atomphysik, Powers beherrscht beides: Die Kunst des Geschichtenerzählens und das Fach, um das es jeweils geht. Denn eigentlich wollte er Naturwissenschaftler werden. Der 54-Jährige, der heute Literaturwissenschaften an der Universität von Illinois unterrichtet, begann seine Laufbahn mit einem Physikstudium. Aber nach ein paar Semestern schmiss er hin:
"Beim Gedanken daran, mich spezialisieren zu müssen, empfand ich ein Gefühl großer Panik - Panik, zu viele Türen schließen zu müssen, denn ich wollte eigentlich Physiker sein und Chemiker und Biologe und Geologe und Musiker und Soziologe und Historiker", so Powers. "Der einzige Beruf, in dem ich meine vielfältigen Interessen unterbringen konnte und mein Vergnügen, das ich an all diesen Themen empfand, und wo ich ein Leben für mich sah, das auf Zusammenhängen basierte, das war die Schriftstellerei. Literatur als letzte Domäne für den Generalisten, der letzte Ort, an dem ich all diese verschiedenen Geschichten sammeln kann."
Nichts vom Ganzen trennen
Als Richard Powers seinen ersten Roman schrieb, war er noch nicht einmal dreißig Jahre alt. Aber das Haupt-Charakteristikum seiner Literatur ist schon damals voll ausgebildet, nämlich die Haltung, dass "kein Ding vom Ganzen zu trennen ist". Das klingt für uns desorientierte Bewohner des Informationszeitalters wie eine frohe Botschaft. Das Ende der Entfremdung!
Powers zeigt, wie dieses Lebensgefühl entstehen kann. Sein Meta-Erzähler P. ist ein Meister der Souveränität und Feinfühligkeit. Er nimmt sich die Zeit, seinen Ahnungen und Sehnsüchten zu folgen und sich von ihnen auch an abstruse Orte wie die Wohnung einer Putzfrau namens Schreck tragen zu lassen.
Knappe 30 Jahre nach Erscheinen des Buches in den USA erscheint dieses Verhalten eines nur unstetig beschäftigten Mittelschichtangehörigen wie verbotener Luxus. Aber vielleicht ist es das genaue Gegenteil, ein elementares Recht, ohne das kein Mensch zur Besinnung kommt. Zeitsouveränität: Ein Leben in selbst bestimmter Geschwindigkeit.
Veränderungen in Zeit und Raum
Die Sache mit der Beschleunigung habe sich ohnehin längst erledigt, schreibt Powers. Es herrsche Stillstand, was man an den sich ständig wiederholenden Selbstreflexionen erkenne. Wir leben an einem Nullpunkt, haben es nur noch nicht bemerkt:
"Ich denke, das ist die wichtigste Aufgabe der Schriftsteller heute, einen gründlichen Blick darauf zu werfen, wie Menschen durch die Technologien Zeit und Raum verändert haben und dabei zu helfen, dass die menschliche Psyche mit diesen Entwicklungen Schritt halten kann. Genau das ist meines Erachtens der Sinn von Literatur, zu helfen, dass der Mensch seinen technischen Fortschritt aufholt."
Richard Powers ist der Erfinder des achtbödigen schwer vernetzten Romans, versehen mit diversen Extras wie Exkursen in die Physik und Metaphysik, Biografie-Kapseln und Dead-end-Storys. Das Debüt "Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz" ist wie die Powers-Romane, die dann noch folgten, eine Art Sehhilfe. Sie rücken das Wichtige in den Vordergrund, lassen die Aufreger des Tages in der Versenkung verschwinden. Und das alles, um die Sicht auf den großen Zusammenhang freizugeben.
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Richard Powers, "Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz", aus dem Amerikanischen übersetzt von Henning Ahrens, S. Fischer Verlag
S. Fischer - Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz