Wie Menschen den Ersten Weltkrieg erlebten

Schönheit und Schrecken

Der Erste Weltkrieg hob die Alte Welt aus den Angeln. Peter Englund, Historiker und Vorsitzender der Nobelpreis-Jury, erzählt die Geschichte dieser Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive von 19 meist unbekannten Menschen.

19 Schicksale

Was für ein bodenloser Schock der Erste Weltkrieg für die Zeitgenossen gewesen sein muss: In Peter Englunds packender Historiencollage wird das noch einmal auf aufrüttelnde Weise deutlich. 19 Männer und Frauen lässt der schwedische Historiker in seinem Buch zu Wort kommen: ein deutsches Schulmädchen, einen ungarischen Kavalleristen, einen belgischen Kampfflieger, eine englische Krankenschwester, einen südamerikanischen Kavalleristen in osmanischen Diensten, einen amerikanischen Feldchirurgen, einen australischen Pionier, der schließlich in der Schlacht von Gallipolli fällt, als einer von 250.000 Toten.

Peter Englunds Hauptaugenmerk richtet sich auf den Alltag des Kriegs und auf die unteren Chargen. Wie Walter Kempowski in seinem gigantomanischen "Echolot"-Projekt, ermöglicht auch der penibel recherchierende Schwede seinem Publikum einen Panoramablick auf das mörderische Geschehen des Kriegs, diesfalls des Ersten Weltkriegs. Anders als Kempowski, der eine reine O-Ton-Collage zusammengestellt hat, berichtet Englund auch in Er-Form von seinen Protagonisten, wobei er sich mit moralisierenden Kommentaren wohltuend zurückhält.

Von der Begeisterung...

Englunds Weltkriegs-Panorama beginnt, wie sollte es anders sein, im August 1914, als halb Europa erfüllt war von Trommelklang und Stiefelklappern, als Millionen Rekruten an die Fronten eilten, Astern und Levkojen in den Gewehrläufen. Wenige Seiten später wandelt sich das Bild: Wir stapfen mit dem ungarischen Kavallerie-Soldaten Pal Kelemen über vereiste Karpatenpässe, wo sich die k.-und-k.-Armee mit den russischen Truppen in erbitterten Kämpfen aufreibt. Wir stampfen mit dem deutschen Schiffsmatrosen Richard Stumpf auf der SMS "Helgoland" über schwere See. Wir fiebern mit dem zwölfjährigen Schulmädchen Elfriede Kuhr im westpreußischen Städtchen Schneidemühl den neuesten Front-Nachrichten entgegen. Und wir glauben, den Gestank des Militärkrankenhauses von Udine zu atmen, wo der italo-amerikanische Infanterist Vincenzo d'Aquila die letzte Ölung in Empfang nimmt.

Der italienische Gebirgsjäger Paolo Monelli wiederum beginnt wenige Wochen später in den Dolomiten gegen die verhassten Österreicher zu kämpfen. Rasch weicht das Freiheitspathos des italienischen Patrioten der Desillusionierung des Frontsoldaten.

... zum Alptraum

Während Paolo Monelli im Mai 1916 mit seinem Alpinisti-Bataillon den vorrückenden Österreichern weichen muss, hält der französische Infanterist René Arnaud mit seiner Einheit die Höhe 321 vor Verdun. Nach zehntägigem Kampfeinsatz in der Hölle Verduns darf Arnaud mit seinem Bataillon dann endlich zurück in die Etappe. Bevor sie ins sichere Hinterland abziehen, müssen Arnauds Kameraden noch die Gefallenen der letzten Tage einsammeln.

Hoffnungslosigkeit im Lazarett

Während vor Verdun insgesamt 320.000 Soldaten ihr Leben verlieren, deutsche wie französische, tut die britische Krankenschwester Florence Farmborough Dienst in der Armee des Zaren. In einem Lazarett in Bohacz pflegt sie verwundete Russen. Einer ihrer Patienten, ein junger Mann, fast ein Kind noch, ist voller Schmutz und getrocknetem Blut. Florence Farmborough will sein Gesicht waschen.

Traumata und Kriegsneurosen

Es sind Hieronymus-Bosch-artige Szenen, die Peter Englund da vor uns ausbreitet. Der Erste Weltkrieg: ein Pandämonium der Qualen, in dem die Kaiserreiche Deutschlands und Österreich-Ungarns schließlich ebenso untergingen wie das osmanische Sultanat, und das doch nur das Präludium war zu einer noch viel größeren Katastrophe, die der fanatisierte Weltkriegs-Loser Adolf Hitler zwanzig Jahre nach den Verträgen von Versailles und Saint-Germain vom Zaune brach.

Der Erste Weltkrieg war mit dem Kriegsende natürlich nicht vorbei. Millionen Krüppel und Traumatisierte bevölkerten das geschundene Europa. Allerorten grassierten Kriegsneurosen. Englund zitiert einen Weltkriegsteilnehmer aus den USA:

Peter Englund hat ein aufwühlendes Buch vorgelegt, ein Buch, das man Europas neuen Nationalisten - von Antwerpen bis Budapest - zum Zwangsstudium aufs Nachtkästchen legen sollte. Englunds Historiencollage ist ein imponierendes Beispiel dafür, was die von akademischen Dogmatikern so oft geschmähte "Erzählende Geschichtsschreibung" zu leisten imstande ist.

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Peter Englund, "Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen", aus dem Schwedischen übersetzt von Wolfgang Butt, Rowohlt Verlag

Rowohlt - Schönheit und Schrecken