"Vier Leben" ergänzen einander
Der Kreislauf des Lebens
Was haben Menschen, Tiere, Pflanzen und Mineralien gemeinsam? Der italienische Regisseur Michelangelo Frammartino wirft in seinem Film "Vier Leben" genauere Blicke auf die Natur Kalabriens, eine Mischung aus Dokumentar- und Spielfilm.
8. April 2017, 21:58
Kulturjournal, 15.09.2011
Die Reinkarnation und Unsterblichkeit der Seele sind Vorstellungen, die die Menschheit schon seit Jahrtausenden bewegen. Zu ihnen gehörte in der Antike schon der griechische Philosoph Pythagoras, der als 40-Jähriger nach Süditalien auswanderte und im heutigen Kalabrien seine Lehre über die Seelenwanderung verbreitete.
Den preisgekrönten italienischen Autor und Regisseur Michelangelo Frammartino zog es ebenfalls seit seiner Kindheit immer wieder in diese Region, in deren Dörfern die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Fasziniert von den archaischen Handwerkstraditionen im kalabrischen Hinterland, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, entwickelte Frammartino dort sein ungewöhnliches Filmprojekt "Vier Leben", das am Freitag, 16. September 2011, in Österreich startet.
Lyrische Geschichte
"Ich habe monatelang Zeit mit einem Hirten verbracht und das Verhalten der Ziegen studiert", erklärt Frammartino. Bei seiner Langzeitbeobachtung stieß er auf einen uralten Brauch, der in dem kalabrischen Dorf Alessandria del Carretto seit Jahrhunderten zelebriert wird. "Jedes Frühjahr fällen die Bewohner für ihr traditionelles Fest eine riesige Tanne, deren Stamm auf dem Dorfplatz aufgestellt wird", berichtet der Filmemacher. Nach den Feiern wird der Baum in Stücke zersägt und zu Holzkohle verarbeitet.
Diese Elemente hat Frammartino in seinem nahezu dokumentarisch anmutenden Spielfilm zu einer lyrischen Geschichte vereint. Zunächst zeigt Frammartino den Alltag eines alten Hirten. Als der Greis, umringt von seinen Ziegen, im Bett stirbt, beginnt mit der Geburt eines jungen Zickleins das nächste Kapitel. Das kleine Tier verirrt sich im Wald und sucht Zuflucht unter einer Tanne. Dieser Baum wird gefällt und am Ende von den Köhlern in mineralische Materie verwandelt. "Alle Lebewesen haben eine Seele", betont der Regisseur. "Man sieht es, wenn man in die Augen eines Tieres blickt. Man spürt es beim Rauschen einer großen Tanne im Wind. Man hört es, wenn die Holzkohle singt, als hätte sie eine eigene Stimme."
Genaue Beobachtung
Frammartino setzt in seinem Film völlig auf die Kraft seiner Bilder, in denen der Transformationsprozess vorsichtig angedeutet wird. Ähnlich wie die Menschen in Kalabrien, denen die Gemeinschaft mehr bedeutet als der materielle Wohlstand, resultiert auch die Stärke von "Vier Leben" aus vielen kleinen, scheinbar unwesentlichen Beobachtungen.
Mit diesem unkonventionellen Werk, das 2010 in einer Nebenreihe des Filmfestivals Cannes ausgezeichnet wurde, ist Frammartino großartiges Kino gelungen, das außerdem nahezu ohne Dialoge auskommt.
Text: APA, Red., Audio: ORF