Landschaft der Künstler, Dichter und Denker

Spurensuche in der Normandie

"Die herabgestürzten Felsen sehen wie die Ruinen einer großen Stadt aus, die früher einmal über dem Meer stand." So beschreibt der französische Dichter Guy de Maupassant die Kreideklippen bei Étretat. Er kam - je nachdem, welcher Berichterstattung man Glauben schenken möchte - entweder im hochherrschaftlichen Chateau Miromesnil oder im Haus seiner Großmutter in Fécamp auf die Welt.

Damit haben er, Gustave Flaubert, André Gide und Pierre Corneille eines gemeinsam: Sie stammen alle aus der Normandie, die heuer - im Jahr 2011 - ihre 1100-jähriges Bestehen feiert. Kein anderes Gebiet Frankreichs weist mehr große Schriftsteller auf als diese Region am Unterlauf der Seine.

Außerdem verbrachten etliche andere Autorinnen und Autoren, wie Victor Hugo, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Marcel Proust und Jaques Prévert ihre Ferien oder ihren Lebensabend entweder in der Haute- oder der Basse-Normandie. Und nicht vergessen sollte man die vielen bildenden Künstler, speziell die Impressionisten, die sich von der vielfältigen Landschaft inspirieren ließen und die Normandie als eine Art Freiluftatelier ansahen. Von Claude Monet zum Beispiel weiß man, dass er die von Maupassant beschriebenen Felsen und die Meereswogen bei Étretat mehrmals malte.

Der Pavillon Flaubert in Croisset

Es ist gar nicht leicht, im heutigen Industriegebiet am Ufer der Seine diesen "Salon du Thé" des Gustave Flaubert zu finden. Beinahe übersieht man zwischen den Gewerbebetrieben, Plakatwänden und hohen alten Koniferen und Linden das zierliche Stein-Gebäude mit den hellgrau gestrichenen Fensterläden. Nicht selten kommt es vor, dass Besucher an dem kleinen Pavillon vorbeifahren, weil sie sich ein imposanteres Architekturdenkmal erwarten.

Zu Flauberts Zeiten befand sich vis à vis des Pavillons anstelle des heutigen Industriegebietes die Werft von Rouen, die auch in den Werken des Dichters Erwähnung findet. Der recht ursprünglich belassene Park wird von den Bewohnern Rouens gern als Picknick-Platz frequentiert. Im Jahr 1904 sollte der Pavillon abgerissen werden, konnte aber durch eine Spendenaktion gerettet werden. 1906 wurde der Pavillon der Öffentlichkeit als Museum und Flaubert-Gedenkort zugänglich gemacht.

An den hellen, holzgetäfelten Wänden hängen einige Gemälde von dem längst abgerissenen Anwesen und dem Seine-Ufer. In einzelnen Vitrinen sind Bilder und Erinnerungsstücke untergebracht: Porträts der Familie, Karikaturen, auf welchen Flaubert mit Riesenkopf und Miniatur-Körper dargestellt ist, die Tabakdose seines besten Freundes Louis Bouilhet und schließlich die Totenmaske von Flauberts Mutter, die der Dichter selbst anfertigte. Außerdem die Gänsefedern, mit denen Flaubert schrieb, Andenken an seine Reisen, ein ausgestopfter Papagei (eine Kopie des legendären Loulou) und Fotos, die Flaubert den "Gallier" - so sein Spitzname - zeigen.

Ry alias Yonville alias Lyons-la-Foret

"Sehenswürdigkeiten gibt es in Yonville nicht. Die Hauptstraße (die einzige) reicht einen Büchsenschuss weit und hat zu beiden Seiten ein paar Kramläden. An der Straßenbiegung ist der Ort zu Ende. Wenn man sich vorher nach links wendet und dem Hange folgt, gelangt man hinab zum Gemeindefriedhof." So beschreibt Gustave Flaubert jenen Ort, in dem er unter anderem einen seiner berühmtesten Romane "Madame Bovary" ansiedelte. Yonville ist in Wirklichkeit das Dorf Ry, das heute noch dieser Beschreibung gerecht wird.

Ry ist ein ruhiger unspektakulärer Ort - heute noch. Deshalb drehte im Jahr 1991 Claude Chabrol nicht in Ry, als er mit Isabelle Huppert den Roman verfilmte, denn das wahre Ry, in dem Flaubert sein Yonville ansiedelte, war zu wenig Filmkulisse - da eignete sich der Hauptplatz vom benachbarten Lyons-de-Foret mit seinem hübschen Hauptplatz, den Fachwerkhäusern und der alten hölzernen Markthalle viel mehr als Schauplatz für die Geschichte der jungen, mit ihrem Leben als Landarztgattin unzufriedenen Emma. Zwei Monate drehte das Film-Team und einige Anstrengungen mussten unternommen werden, um sämtliche Zeichen von Modernität für diese Zeit zum Verschwinden zu bringen. Die Fernseh-Antennen und Ampeln wurden kaschiert und Sand auf die Straßen gestreut.

Entlang der Alabaster- und Blumen-Küste

Fährt man von Rouen und Lyons-la-Foret ein Stück in Richtung Norden zur Küste kann man die literarische Spurensuche noch intensivieren: Im Chateau Vascoeuil zum Beispiel wird das Andenken an den französischen Historiker Jules Michelet hochgehalten, der in diesem normannischen Herrensitz seine 24-bändige "Geschichte Frankreichs" schrieb.

Seit 1965 fungiert die prächtige Parkanlage auch als Skulpturengarten, in dem Kunstwerke von Dalí, Braque, Léger, Volti und Szekely zu besichtigen sind. Außerdem finden im prächtigen Taubenhaus aus Backstein Wechselausstellungen statt. Ein paar Kilometer weiter im Hinterland der Côte d'Albatre, der Alabaster-Küste, bei Dieppe ist es - nach Voranmeldung - möglich, vom heutigen Besitzer Jean Christoph Romatet durch das Schloss Miromesnil geführt zu werden und einiges über Guy de Maupassant, der hier das Licht der Welt erblickt haben soll, zu erfahren. In der kleinen Kapelle St. Antoine im angrenzenden Wald wurde der Dichter getauft und dabei war Gustave Flaubert zu Gast.

Kein Schriftsteller, aber ein überaus engagierter Gartengestalter und -philosoph ist im Parc Floral du Bois des Moutiers tätig. Antoine Bouchayer-Mallet, dessen Großeltern dieses Herrenhaus samt Park beim Architekten Sir Edwin Lutyens und bei der Landschaftsgärtnerin Gertrude Jekyll in Auftrag gaben, pflegt den ausgedehnten Garten, in dem Riesen-Rhododendren, Azaleen und japanische Ahornbäume gedeihen, mit größter Sorgfalt.

An der spektakulären Alabaster-Küste mit den schroffen "Falaise", den Kreidefelsen, befindet sich in Étretat auch der Clos Arsène Lupin, das einstige Wohnhaus von Maurice Leblanc, dem Erfinder des "Gentelman-Gauners" schlechthin. In dem heutigen Museum kann man in die Welt des Arsène Lupin, der zum Beispiel einmal seine Beute im Inneren einer ausgehöhlten Felsnadel, genannt "Aiguille Creuse", versteckte, eintauchen.

Das Cabourg des Marcel Proust

"Die Normandie ist ein heiteres, grünes Land, mit kleinen Badestränden und großen mondänen Plätzen, um die bequeme Wege herumführen." Eine weitere Beschreibung der Landschaft im Westen Frankreichs - von Kurt Tucholsky, der sie im Jahr 1926 bereiste.

Nach und nach wird die Küste sanfter und geht in die berühmte Côte Fleurie, die Blumenküste, über. Hier befinden sich die traditionsreichsten Seebäder der normannischen Küste: Trouville-sur-Mer, Deauville und Cabourg. Das erste Casino in Cabourg wurde 1855 noch aus Holz errichtet, ein mächtiger Bau, in dem 2.000 bis 3.000 Personen Platz fanden. Etwas später entstand das sogenannte Strandhotel. Es war mit 150 Zimmern relativ groß.

Allmählich wurden auch die kleinen, im Halbkreis um dieses architektonische Zentrum samt Parkanlage angrenzenden Bau-Parzellen verkauft. Während der ersten 25 Jahre wurden etwa 200 Villen gebaut. Dem Gestaltungswillen der Architekten waren kaum Grenzen gesetzt, das sieht man heute noch an den verspielten Türmen, detailverliebten Stuck-Fassaden und schnörkeligen Dachgiebeln. Ihre Besitzer stammten aus der Welt der Finanzen und der sogenannten "feinen" Gesellschaft. Manche waren Künstler. Nicht jedermann konnte in Cabourg leben. Heute hat sich die Situation etwas demokratisiert, das beweisen die Fastfood-Läden, die sich in der Avenue de la Mer, der zentralen Achse, mit eleganten Restaurants, Feinkostläden und Modegeschäften abwechseln. Das Publikum ist bunt gemischt und gar nicht mehr elitär, obwohl sich die Preise im Seebad sehen lassen können.

Marcel Proust reiste schon als Kind das erste Mal an die Côte Fleurie, er war nämlich im Alter von neun Jahren schwer an Asthma erkrankt und konnte in der Großstadt Paris nicht mehr frei atmen. Also schickte ihn sein Vater, der Arzt war, mit seiner Mutter und Großmutter nach Trouville. Dort stieg man im Hotel "Le Roche Noir" ab. Jahre später las Proust dann in "Le Figaro", dass der Bürgermeister von Cabourg Charles Bertrand das alte Strandhotel hatte abreißen lassen. An dessen Stelle war 1907 das moderne Grand Hotel eröffnet worden. Elegant im Stil der Belle Epoque mit vielen Schnörkeln an der Fassade und in der Nacht hell beleuchtet wie ein Schloss, gibt sich das Grand Hotel von Cabourg heute noch.

Das Grand Hotel verewigte Proust sogar in dem Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" als das "Hotel von Balbec". Marcel Prousts Zimmer Nr. 414 ist schlicht: Das Bettgestell aus geschwungenem Metall ist recht schmal, die Tapete unaufdringlich, die Farben dezent. Die Vorhänge sind in einem dunklen Türkis gehalten, ebenso die Polsterung der Stühle. Der glatt geschliffene Holzboden stammt noch aus den Anfangstagen des Hotels, auch der schöne Luster, der ein angenehm weiches Licht spendet. An einem schmalen Tisch, der in eine Ecke gerückt steht, schrieb Marcel an seinem Jahrhundertwerk.

Jaques Préverts Rückzugsort

Im letzten Winkel der Region Hague, bei dem Ort Omonville-la-Petite, ganz verwunschen von wildem Wein und Rosen überwachsen liegt das Steinhaus Jaques Préverts in einem Garten, versteckt hinter Riesen-Huflattich und Azaleenbäumen. Im Inneren ist es kühl, der Holzboden knarrt etwas, wenn die Besucher im Erdgeschoß durch das ehemalige Wohnzimmer in Betrachtung der temporären Ausstellung zu Préverts Zusammenarbeit mit der Fotografin Ylla von Bildtafel zu Bildtafel schreiten.

Eine schmale Holztreppe führt im weißgekalkten Treppenhaus in den ersten Stock - durch ein Glasfenster kann man von hier aus einen Blick in die Küche werfen, die sich immer noch so darstellt wie vor 40 Jahren: schlicht und funktionell. In dem großen hellen Atelier-Raum mit zwei Dachschrägen, Kamin und Bücherschrank steht über die ganze Länge des Raumes der einfache Tisch: eine lange schmale Holzplatte auf mehreren Malerböcken gelegt. Auf ihnen liegen noch einige Utensilien, die Prévert verwendet haben mag: ein Bleistiftspitzer, Stifte, die Brille, einige Bücher, ein Spielzeugboot. An den Wänden Fotografien von Prévert mit seiner Enkelin und anderen Familienmitgliedern, über dem Kamin ist er auf einer Karikatur mit seiner unverzichtbaren Zigarette zu sehen. In der Mitte des Raumes schwebt ein nackter Engel. Mag sein, dass Jaques Prévert den Unmut gewisser Leute auch dadurch erregt hatte, weil er, der populärste Lyriker des Landes, kein einziges Gedicht über die Region Hague geschrieben hat. Allerdings hat er in seinen letzten Jahren überhaupt nicht mehr viel geschrieben, er widmete sich hauptsächlich den Collagen - und diesen ist in den ehemaligen Schlafräumen eine Dauerausstellung gewidmet.

Ein Garten als Hommage

Ein paar Kilometer weiter liegt ganz versteckt in einer Talsenke bei Saint Germain de Veaux der "Jardin de Prévert", ein Wunderwerk der Natur und zum Teil von Gérard Fusberti, einem der Weggefährten Jaques Préverts, gestaltet. Rote Signale blitzen im grünen Laub auf: ein rotes Brückengeländer, ein rotes Gesicht auf der Rinde eines Baumes, rote Sitzbänke. Dieser Garten ist seit bald 50 Jahren in Besitz des aus Italien stammenden Antiquitätenhändlers. Seine Eltern hatten dem damaligen Studenten dieses Stück Land als Geldanlage gekauft.

1966 lernte Fusberti Jaques Prévert kennen - am Cap Goury, wo der junge Mann am Hafen einen kleinen Antiquitätenladen betrieb. Dem jungen "Gérard de Goury", wie er sich damals nannte, imponierte die nonkonforme Haltung des Dichters sehr. Besuche seiner Freunde, zum Beispiel von Picasso, Miro und Calder waren ihm höchst willkommen. Gefeiert wurde im Garten von Gérard Fusberti. Seine Erinnerungen an diese Zeit versuchte Gérard Fusberti nach dem Tod Jaques Préverts zu bewahren. Gemeinsam mit dessen Witwe Janine entwickelte er 1980 die Idee, den Garten zu einem Gedenkort zu verwandeln - ein Garten als Hommage gewissermaßen.

Janine Prévert und Gérard Fusberti regten Préverts Freunde dazu an, auf dem Gelände entlang des Baches Bäume und Sträucher zu pflanzen: Gérard Fusberti pflanzte - wie auch in Italien Tradition - als erstes Salbei, Janine Prévert setzte einen Viburnum-Strauch, auf dem im Frühling prächtige Schneebälle blühen, und Yves Montand entschied sich für Nadelbäume aus dem Süden. Jean Gabin, Michele Morgan, Juliette Greco und viele andere Künstler leisteten einen Beitrag zum "Erinnerungsgarten!" Auf Schildern ist dies vermerkt.

Seit 1980 verbringt Gérard Fusberti jeden Sommer in seinem Garten, er schneidet das Unterholz, kreiert neue Sitzplätze und hält die Tafeln in Schuss, auf welchen Gedichte und Bonmots von Prévert, wie etwa "Heute sind wir die Überlebenden der Zukunft", geschrieben stehen. Bei einem Spaziergang durch den Garten kann man sich daher Gedichte wie "Le temps perdu/Die verlorene Zeit" oder "Arbres/Bäume" vergegenwärtigen. Außerdem kann man nachlesen, zu welchen Filmen Jaques Prévert die Drehbücher - unter anderem für Marcel Carné - geschrieben hat: "Die Kinder des Olymp", "Die Nacht mit dem Teufel" und "Der König und der Vogel" sind nur einige davon. Hin und wieder kommen Schulklassen, erzählt Gérard Fusberti, und lernen hier den populärsten Lyriker Frankreichs auf eine etwas andere Art kennen.

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