Romandebüt von Josef Bierbichler
Mittelreich
"Man erträgt nur, was man selber erlebt", ist die späte Einsicht eines Gescheiterten, der sich nie wirklich in andere hineinversetzen konnte und am Unerträglichen verzweifelte. Der "Seewirt" ist die zentrale Figur in Josef Bierbichlers Roman "Mittelreich".
8. April 2017, 21:58
"Man erträgt nur, was man selber erlebt", sagt der alte Pankraz Birnberger, der "Seewirt" aus Oberbayern. Selber hat er viel erlebt, viel ertragen und doch auch vieles nicht ertragen können und damit auch sein Glück verpasst: Weil er, wie er am Ende seines Lebens schmerzhaft begreift, seiner Zeit und seinem Stand nicht voraus, sondern darin gefangen war; weil er sich nicht ändern konnte; weil ihm Frau und Kinder fremd wurden; weil ihm die Zuflucht zur Gottesfürchtigkeit weniger Trost als Isolation brachte; vielleicht auch, weil er einst seinen künstlerischen Neigungen nicht nachgegeben hatte. Denn dazu fehlte es ihm an Mut.
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Ich bin Bauer und Wirt. (...) Mein Los ist der Besitz. (...) Ein Besitz ist zwar ein Privileg. (...) Aber es ist auch das Nadelöhr, durch das man sich immer wieder zwängen muss, damit man auch als Besitzer in den Himmel kommt. (...) Ein wirklich Reicher kommt natürlich nicht ins Himmelreich. Sonst gäbe es ja keinen Glauben mehr. Aber wer ist schon so reich, dass er damit gemeint sein könnte. Ich nicht. Ich gehöre bestenfalls zu den Mittelreichen.
In "Mittelreich" erzählt Bierbichler, der Land- und Gastwirtssohn aus Ambach am Starnberger See, von Birnberger, dem Land- und Gastwirt von einem bayerischen See, von dessen Vater, Geschwister, Frau und Sohn, den Angestellten, Kriegskameraden, Sommergästen und Mitbewohnern. Dass seine Geschichte autobiografisch ist, bestreitet Bierbichler, dass die Darstellung der Figuren, die Schilderung von Menschen und Milieus auf persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen fußt, ist unbestreitbar.
Jubelnd in den Krieg
"Mittelreich" ist das Buch eines eigentümlich und gekonnt mit der Sprache arbeitenden Autors, der zehn Jahre nach "Verfluchtes Fleisch", seinem durchaus beeindruckenden, aber auch mit Rabiatem und Kraftmeierndem wuchernden literarischen Debüt, nun mit seinem Roman-Debüt seinen unverkennbaren, mitunter an Oskar Maria Graf erinnernden Ton gefunden hat. "Das ist wie beim Theaterspielen", sagt er. "Da musst du auch den eigenen Ton kennenlernen und dann schauen, von wo er kommt, dass man ihn dann zur Verfügung hat jedes Mal... Gleichzeitig ist Schreiben eine Verdichtung von Emotionen und Gedanken."
"Mobilmachung is" verkündet im August 1914 der Bürgermeister von Kirchgrub - und blickt in leuchtende Gesichter. Denn obwohl die Region am See in den letzten Jahren einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte dank der zunehmenden Sommergäste, machten sich Unzufriedenheit, Verunsicherung und Überdruss breit. "Man wartete auf etwas, wusste aber nicht auf was. Alles war leer und langweilig", konstatiert der Erzähler. Jubelnd zieht man in den Krieg, auch Pankraz' älterer Bruder, der schwer verletzt zurückkehrt, die Bürgerwehr mobilisiert und gegen den "roten Spuk" wettert, ein Landwirt aber nicht mehr werden wird.
Pankraz liebäugelt derweil mit einer Karriere als Sänger. Nach dem Zweiten Weltkrieg ringt er sich aber doch dazu durch, den Hof zu übernehmen, "aus reiner Existenzangst", wie es heißt, heiratet und setzt drei Kinder in die Welt, darunter Semi, den Ältesten. Als ein fürchterlicher Sturm beim Seewirt wütet und der unerschrocken nach dem Rechten sieht, offenbart sich dessen Tatkraft, aber auch seine innere Zerrissenheit, sein Hang zu Selbstmitleid, Fatalismus und Verzweiflung.
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Verfluchtes Erbe, schreit er, verfluchter Zwang, ich will der Knecht nicht sein von diesem alten Krempel, den ihr verfluchten Ahnen hier gebündelt habt, mehr als Hunderte von Jahren lang. Ich hasse dieses Haus und diesen ganzen Heimatkram. Ich will heraus, heraus aus allem, was ich muss. Ich will nur noch machen, was ich kann. (...) Durch Trümmer läuft er hinunter bis zum See und reckt die Faust zum Haus und in den Himmel.
Familienchronik und Gesellschaftspanorama
In "Mittelreich" und seinem Personal spiegelt Josef Bierbichler die Veränderungen, Stimmungen und Ängste zwischen 1914 und 1984: Kriegsbegeisterung und Judenhass, Ausländer- und Kommunistenfeindlichkeit, den selbstzufriedenen Adenauerstaat und die Hippie- und Protestbewegung der 1960er und 70er Jahre, das Frömmlerisch-Sture der Alten und das Selbstgefällig-Oppositionelle der Jungen, Spekulantengeist, Verdrängungseifer, Selbstbehauptungswillen.
Er verschränkt Familienchronik mit Gesellschaftspanorama und erzählt gerade am Beispiel von Flüchtlingen aus dem Osten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der bayerischen Provinz Unterschlupf fanden, berührende, tragische und manchmal auch ein bisschen schräge Biografien, wie die Geschichte von Viktor, dem Schlesier, der immer fremde Post liest, sich mit dem Feldstecher am Anblick einer Nackten ergötzt und sich als Faktotum beim Seewirt ein kleines Vermögen erspart; wie die Geschichte des Fräuleins mit der "Zipfelpritsche", der verarmten Adoptivtochter eines Rittmeisters, die ihr männliches Geschlecht verbirgt, sich eines Tages vor einem kleinen Mädchen enthüllt und anschließend im Weiher ertränkt. Oder die von Tucek, dem jüdischen Apotheker aus dem Riesengebirge, der KZ-Witze mit seiner eigenen, entsetzlichen Lebensgeschichte erwidert.
Geschichten wie diese sind eigentlich fast stärker als die von Semi, dem Seewirts-Sohn, musisch veranlagt wie sein Vater und doch ganz anders in seiner Art. Er verzeiht es seinen Eltern nicht, dass sie ihn in ein Internat fern der Heimat schickten. Etwas plakativ und Semis selbstgefällig-hochfahrendem Ton zu sehr Raum lassend, wird die Gefühllosigkeit und "unheilbare Verletzung" des Jungen vorgestellt: Semi, ein Opfer der "Menschenum- und unformschmiede des Klosters", wo sich ein Pater an ihm vergeht.
Nicht weniger drastisch wird der Konflikt mit dem Vater gezeigt, der den Rebellen und Parteigänger der Kommunisten in den Schoß der Kirche zurückführen will, und das ödipale Hass-Verhältnis zur schließlich zum Pflegefall gewordenen Mutter, von der sich Semi schließlich erlöst.
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Er lag auf ihr, eindringlich, nicht eingedrungen (...), und küsste ihren Mund so lang, bis ihr Atem versiegt war. Danach gab er sie frei. Das griechisch-tragische Wort ist tödlichfaktisch, murmelte er, als er von der Toten stieg, und: Ach Hölderlin!, als der den Raum verließ.
Eine "Überlebensform"
Es ist viel drin in den 400 Seiten von Josef Bierbichlers "Mittelreich", einem Roman voller Pathos, Ungeniertheit, Zärtlichkeit und Wut, geschrieben von einem Autor, der große Sprachkraft und Sprachlust verrät, der den hohen Theaterton nahtlos mit der derben Umgangssprache verknüpft, der bei seinen eindringlichen Zeit- und Menschenbildern vom Bieder-Heimatrealistischen nichts wissen will und lieber ein wunderbar seltsames Kunstbayrisch pflegt, das auch da, wo es umständlich-gedrechselt oder verquer und absurd klingend daherkommt, poetische Funken schlägt.
Manche Szene mag zu lang sein, manche zu dick aufgetragen - "Mittelreich" ist alles in allem ein überzeugendes, ein starkes Roman-Debüt. "Ich kann sagen, dass Schreiben eine Option ist, noch eine Zeit lang zu überleben", meint der Autor. "Beim Theaterspielen wüsste ich das nicht mehr. Da drängt es mich nicht mehr hin... Schreiben ist etwas, wo die Zeit nicht tot vergeht, sondern lebendig. Ich glaube, dass Schreiben für mich eine Überlebensform wird."
Der Zeit hinterher
Am Ende wird mit Pankraz Birnberger ein unglücklicher Mann abtreten. Ein Mensch, der mit der Zeit ging - der seine Knechte gegen einen Traktor tauschte - und doch ihr immer hinterher hinkte. Der die Enteignung seiner Streuwiesen, die in öffentliches Badeland umgewidmet wurden, genauso als persönliche Beleidigung und Demütigung empfand wie die Abnabelung seiner Kinder. Der zuletzt die Ehe- und Familienbande aufkündigte und den Nachkommen das Erbe entzog. Der das Leben in seiner "ganzen, offensichtlich unaufhörlich unübersichtlich bleibenden Widersprüchlichkeit" einfach nicht mehr ertragen konnte. "Alles, was kommt, wird schlimmer als alles, was war", heißt es an einer Stelle. "Die Erde ist keine Heimat", heißt es am Schluss.
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Josef Bierbichler, "Mittelreich", Suhrkamp Verlag
Das Hörbuch "Josef Bierbichler, Mittelreich", eingelesen vom Autor selbst, ist bei beim Audio Verlag erschienen.
Suhrkamp - Mittelreich
Audio Verlag - Mittelreich