Roman von Hallgrímur Helgason

Eine Frau bei 1000°

Die alte Herborg María Björnsson verlebt ihre letzten Tage todkrank und bettlägerig in einer Garage in Reykjavik - mit ihrem Laptop und einer Handgranate aus dem Zweiten Weltkrieg in Griffweite. Von ihrer Familie allein gelassen, erinnert sie sich an ihr wildes, leidvolles Leben.

Die Erzählerin in Hallgrímur Helgasons neuem Roman "Eine Frau bei 1000°" hätte jedes Recht, ein wimmerndes Häufchen Elend zu sein, ist sie aber nicht. Stattdessen organisiert sie den Termin für ihre Einäscherung und narrt ihre von Zimbabwe bis Australien reichenden männlichen Internetbekanntschaften, indem sie sich als junge isländische Schönheitskönigin ausgibt. Herborg Björnsson hat das 20. Jahrhundert überlebt, samt Zweitem Weltkrieg, Verlusten und Beziehungshöllen. Man schreibt das Jahr 2009. Island versinkt gerade in der Finanzkrise, Herborg in ihren Erinnerungen.

Götterbelämmerung

Und diese Verwandtschaft ist der Quell von Komplikationen und Elend im Leben der Erzählerin. 1929 wird sie in einem Ísafjorder Blechschuppen geboren. Ihre Mutter zieht sie sieben Jahre lang alleine auf, bis sich der Vater doch entschließt, dazu zu stoßen. Er, Hans Henrik Björnsson, der missratene und tragische Sohn jenes Staatsbeamten, der zum ersten Präsidenten des 1944 unabhängig werdenden Islands aufsteigen sollte, wird zum Schicksal Herborgs. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zieht er zu seiner Frau und Tochter nach Island.

Der Sog des Führerkults

Beruflich erfolglos, von der eigenen Familie unter Druck gesetzt, von jener seiner Frau misstrauisch beäugt, unterliegt der junge Mann dem Sog des Führerkults der Nationalsozialisten.

Mit Frau und Tochter geht er von Reykjavik ins von Deutschland besetzte Kopenhagen, von dort nach Lübeck. Zum Entsetzen der Familie und der eigenen Frau schließt er sich der deutschen Armee an und zieht als Mitglied der Waffen-SS in den Krieg nach Russland.

Hassliebe für den Vater

1941 wird Herborg von ihrer Mutter auf die Frieseninsel Amrum geschickt. Bis Kriegsende soll sie ihre Eltern nicht wiedersehen. Auf ihren Odysseen quer durch Europa erleben Vater und Tochter auf unterschiedliche Weise die Gräuel des Zweiten Weltkriegs. Als die Familie 1945 auf Island zusammenkommt, um dann unwiderruflich zu zerbrechen, fühlt sich die vom Krieg gezeichnete Tochter dem Vater, dem Täter und kaputten Verlierer, der seiner Präsidentenfamilie peinlich ist, näher, als der antifaschistischen Mutter, die sich von ihm abwendet.

Herborg geht mit ihm nach Argentinien, verlässt ihn dort, kümmert sich aber wieder um ihn, als es mit ihm zu Ende geht. Sie hasst und liebt ihren Vater gleichermaßen, dessen verhängnisvolle Charakterschwächen und Fehlentscheidungen ihr so viel Leid eingebracht haben und kommt ein Leben lang nicht von ihm los.

Welt der Gewalt

Der Krieg, diese Zeit der Angst, des Hungers und der Vergewaltigungen macht den größten Teil der zwischen den Jahrzehnten hin und her springenden Erinnerungen Herborgs aus. Die Zeit danach ist verdüstert. Zwar gibt es eine kurze glückliche Phase der Verliebtheit im Argentinien der 1950er Jahre oder einen Kuss John Lennons im Hamburg der 1960er Jahre oder turbulente Jetset-Jahre als Model an der Seite des amerikanischen Fotografen Bob. Doch schließlich - neun Männer und drei Kinder später - landet Herborg wieder in einer Welt der Gewalt, beim trunksüchtigen isländischen Seemann Baering, dessen Ausbrüchen sie sich nur durch Totschlag entziehen kann.

Hallgrímur Helgason erzählt europäische Geschichte aus einer isländischen, vor allem aber aus einer eigensinnigen weiblichen Perspektive.

Er lässt seine Protagonistin mit ihren Betrachtungen einen Bogen von der Zwischenkriegszeit bis zum isländischen Bankencrash spannen.

Keine Altersmilde

In seinem neuen Roman fabuliert Hallgrímur Helgason mit gallenschwarzem Humor Geschichten und Gestalten herbei, die in ihrer Drastik und Ambivalenz ein ebenso bizarres wie glaubwürdiges Panorama des 20. Jahrhunderts aufspannen.

Mit seiner Herborg Björnsson hat er eine grandiose Frauenfigur geschaffen. Sarkastisch bis zum Schmerz, unsentimental bis zur Komik, und ohne den geringsten Anflug von Altersmilde, rechnet sie mit sich und den anderen ab. Unverwüstlich ist diese wilde Greisin, wie die von der Nordsee umtosten Vulkane. So unverwüstlich, dass sie sogar noch von den Schwierigkeiten bei ihrer Beisetzung berichten kann.

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Hallgrímur Helgason, "Eine Frau bei 1000°. Aus den Memoiren der Herborg María Björnsson", aus dem Isländischen übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig, Verlag Klett-Cotta

Klett-Cotta - Hallgrímur Helgason