Roman von Hallgrímur Helgason
Eine Frau bei 1000°
Die alte Herborg María Björnsson verlebt ihre letzten Tage todkrank und bettlägerig in einer Garage in Reykjavik - mit ihrem Laptop und einer Handgranate aus dem Zweiten Weltkrieg in Griffweite. Von ihrer Familie allein gelassen, erinnert sie sich an ihr wildes, leidvolles Leben.
27. April 2017, 15:40
Die Erzählerin in Hallgrímur Helgasons neuem Roman "Eine Frau bei 1000°" hätte jedes Recht, ein wimmerndes Häufchen Elend zu sein, ist sie aber nicht. Stattdessen organisiert sie den Termin für ihre Einäscherung und narrt ihre von Zimbabwe bis Australien reichenden männlichen Internetbekanntschaften, indem sie sich als junge isländische Schönheitskönigin ausgibt. Herborg Björnsson hat das 20. Jahrhundert überlebt, samt Zweitem Weltkrieg, Verlusten und Beziehungshöllen. Man schreibt das Jahr 2009. Island versinkt gerade in der Finanzkrise, Herborg in ihren Erinnerungen.
Götterbelämmerung
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... ich sehe den Lebensabgrund, ich sehe mein eiskaltes, versalzenes Leben, meine ewige Götterbelämmerung. Städte zeichnen sich da unter mir ab, Inseln, Länder. Kerle grinsen wie Steinbeißer, Haie, mit deutschen Balkenkreuzen markiert, schwärmen umher, und von weit her sind die Luftschutzsirenen der Wale zu hören. Aus dem grünen Dämmer kommt meine Verwandtschaft angeschwommen wie ein Schwarm Thunfische...
Und diese Verwandtschaft ist der Quell von Komplikationen und Elend im Leben der Erzählerin. 1929 wird sie in einem Ísafjorder Blechschuppen geboren. Ihre Mutter zieht sie sieben Jahre lang alleine auf, bis sich der Vater doch entschließt, dazu zu stoßen. Er, Hans Henrik Björnsson, der missratene und tragische Sohn jenes Staatsbeamten, der zum ersten Präsidenten des 1944 unabhängig werdenden Islands aufsteigen sollte, wird zum Schicksal Herborgs. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zieht er zu seiner Frau und Tochter nach Island.
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Mein Vater war ein "waffenvernarrter Mann", wie Oma Vera es ausdrückte und wie es sich bewahrheiten sollte. An der Art, wie er sich auf Svefneyjar in die Heuarbeit stürzte, erkannte sie etwas, was andere nicht sahen, eine Schonungslosigkeit gegen sich selbst, gepaart mit einer inneren Überzeugung vom baldigen eigenen Untergang.
Der Sog des Führerkults
Beruflich erfolglos, von der eigenen Familie unter Druck gesetzt, von jener seiner Frau misstrauisch beäugt, unterliegt der junge Mann dem Sog des Führerkults der Nationalsozialisten.
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Papa war also ein verführbarer Mann am falschen Ort, ein blonder Wikinger, der Deutsch mit arischem Akzent sprach und außerdem erstklassiger Abstammung war. Zwanzig Minuten vor Kriegsbeginn nahmen Himmlers Spürhunde Witterung auf und fanden heraus, dass Herr Björnsson nicht bloß ein Überarier, sondern auch der Sohn des höchsten Staatsbeamten des Landes war - ein ganz toller Fang.
Mit Frau und Tochter geht er von Reykjavik ins von Deutschland besetzte Kopenhagen, von dort nach Lübeck. Zum Entsetzen der Familie und der eigenen Frau schließt er sich der deutschen Armee an und zieht als Mitglied der Waffen-SS in den Krieg nach Russland.
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Die meisten verüben wohl früher oder später ihren Vatermord. Die Glücklichen vollbringen ihn selbst, andere heuern jemanden dafür an, meinem Vater reichte nicht weniger als eine deutsche Panzerarmee, um sich für seine Niederlagen in den Schlachten von Reykjavík, Vejle und Kiel zu rächen. Kaum etwas ist so lächerlich wie die Rache eines Feiglings, aber es ist auch kaum etwas schrecklicher.
Hassliebe für den Vater
1941 wird Herborg von ihrer Mutter auf die Frieseninsel Amrum geschickt. Bis Kriegsende soll sie ihre Eltern nicht wiedersehen. Auf ihren Odysseen quer durch Europa erleben Vater und Tochter auf unterschiedliche Weise die Gräuel des Zweiten Weltkriegs. Als die Familie 1945 auf Island zusammenkommt, um dann unwiderruflich zu zerbrechen, fühlt sich die vom Krieg gezeichnete Tochter dem Vater, dem Täter und kaputten Verlierer, der seiner Präsidentenfamilie peinlich ist, näher, als der antifaschistischen Mutter, die sich von ihm abwendet.
Herborg geht mit ihm nach Argentinien, verlässt ihn dort, kümmert sich aber wieder um ihn, als es mit ihm zu Ende geht. Sie hasst und liebt ihren Vater gleichermaßen, dessen verhängnisvolle Charakterschwächen und Fehlentscheidungen ihr so viel Leid eingebracht haben und kommt ein Leben lang nicht von ihm los.
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Es brauchte ein ganzes Herz, um sich mit einem wie ihm auszusöhnen, und es blieb nur wenig übrig von diesem Bratenstück. Ich bin eine Frau, die ihr Leben mit dem Versuch vergeudet hat, den Mann zu lieben, der ihr die Liebe genommen hat.
Welt der Gewalt
Der Krieg, diese Zeit der Angst, des Hungers und der Vergewaltigungen macht den größten Teil der zwischen den Jahrzehnten hin und her springenden Erinnerungen Herborgs aus. Die Zeit danach ist verdüstert. Zwar gibt es eine kurze glückliche Phase der Verliebtheit im Argentinien der 1950er Jahre oder einen Kuss John Lennons im Hamburg der 1960er Jahre oder turbulente Jetset-Jahre als Model an der Seite des amerikanischen Fotografen Bob. Doch schließlich - neun Männer und drei Kinder später - landet Herborg wieder in einer Welt der Gewalt, beim trunksüchtigen isländischen Seemann Baering, dessen Ausbrüchen sie sich nur durch Totschlag entziehen kann.
Hallgrímur Helgason erzählt europäische Geschichte aus einer isländischen, vor allem aber aus einer eigensinnigen weiblichen Perspektive.
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Daher rate ich meinen Geschlechtsgenossinnen: Lauft und kauft Decken und Dosenfleisch, wenn ihr einen Mann sagen hört, wir leben in historischen Zeiten.
Er lässt seine Protagonistin mit ihren Betrachtungen einen Bogen von der Zwischenkriegszeit bis zum isländischen Bankencrash spannen.
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Wie sein Vater, der Faschismus, ist der Neoliberalismus vor allem von weißen, kinderlosen Männern ausgebrütet worden. (...) Das kapitalistische Denken geht nämlich genau dann auf, solange nichts den Mann von seiner Arbeit abhält, die Frau seine Hemden in die Reinigung bringt, keine Kinder zur Welt kommen und kein älterer Mensch zum Arzt gebracht werden muss.
Keine Altersmilde
In seinem neuen Roman fabuliert Hallgrímur Helgason mit gallenschwarzem Humor Geschichten und Gestalten herbei, die in ihrer Drastik und Ambivalenz ein ebenso bizarres wie glaubwürdiges Panorama des 20. Jahrhunderts aufspannen.
Mit seiner Herborg Björnsson hat er eine grandiose Frauenfigur geschaffen. Sarkastisch bis zum Schmerz, unsentimental bis zur Komik, und ohne den geringsten Anflug von Altersmilde, rechnet sie mit sich und den anderen ab. Unverwüstlich ist diese wilde Greisin, wie die von der Nordsee umtosten Vulkane. So unverwüstlich, dass sie sogar noch von den Schwierigkeiten bei ihrer Beisetzung berichten kann.
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Hallgrímur Helgason, "Eine Frau bei 1000°. Aus den Memoiren der Herborg María Björnsson", aus dem Isländischen übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig, Verlag Klett-Cotta
Klett-Cotta - Hallgrímur Helgason