Das Leben ist wie Bachs "Chaconne"
Philipp Blom und die Musik
"Ich glaube, dass einen die Musik zu Einsichten bringen kann: Einsichten über das Stück und Einsichten über sich selbst. Die Musik ist ja eine Äußerung des menschlichen Charakters, und daher ist es nicht verwunderlich, dass man in der Musik wichtige Elemente des Menschseins gespiegelt sieht." Der Autor und Historiker Philipp Blom über den wundersamen Zusammenhang von Musik und Leben.
27. April 2017, 15:40
Philipp Blom, Historiker
Der Grundcharakter und die Variationen
Vor fast dreihundert Jahren schrieb Johann Sebastian Bach die "Chaconne", ein berückendes Solo für Violine, das seitdem den Virtuosen der Nachwelt als das "Maß aller Dinge" gilt. Etwa 15 Minuten und 256 Takte lang ist die "Chaconne", von immensem Variantenreichtum und ungewöhnlicher Vielstimmigkeit - nur der Bass, die Basis also, bleibt das ganze Stück hindurch nahezu unverändert.
"Der Bass ist extrem einfach, das sind vier Noten: la - da- da- da - und das geht vierzigmal so rum, und jedes Mal wird das anders harmonisiert. Warum kann einen das zu Gedanken übers Leben bringen? Ich glaube, wir leben in unserer rationalisierten Welt sehr nach der Sonaten-Form, nach dem klassischen Drama. Da hat man dann das männliche Thema, dann kommt das weibliche Thema: 'Boy meets girl'. Dann wird das Ganze dialektisch durchgearbeitet und durchgewalkt, und am Ende kommt das Thema triumphant und gereinigt wieder hervor. Das ist doch ein sehr restriktiver Lebensentwurf. Das ist ja auch der klassische Karrierepfad: Man fängt irgendwann an, dann erreicht man den Höhepunkt - und dann kommt die Coda des Lebens."
Musikalische Umwege
Philipp Blom spielt seit seinem sechsten Lebensjahr Geige; seit etwa 30 Jahren, so der 1970 in Hamburg Geborene, arbeitet er sich an der "Chaconne" ab. Für ihn spiegeln sich in dieser Musik wesentliche Elemente des Menschseins wider, denn der musikalische Entwurf der "Chaconne" lässt sich mit dem geglückten Lebensentwurf eines Menschen vergleichen, meint Blom. Im Barock, der Entstehungszeit der "Chaconne", war die Musik meist improvisiert: Man ging nicht zielgerichtet voran, sondern tänzelte immer wieder vom Weg ab, um dann wieder zurückzukommen. Dieses Vorgehen findet Philipp Blom auch als Lebenskonzept für erstrebenswert:
"In der 'Chaconne' ist dieser dauernde Bass wie die Grundkonstitution, die man hat, wie der Charakter, den Körper, die Umstände, die man hat - und darüber kommen alle möglichen Variationen und die große Freiheit, wie man mit diesen Grundbedingungen des Lebens umgehen kann. Das hat für mich viel damit zu tun, wie wir unser Leben eigentlich wirklich leben, nämlich dass wir gewisse unabänderliche Grundvoraussetzungen haben, an denen wir nichts tun können, aber mit denen wir sehr viel tun können: Wir können sie variieren, wir können sie ausspielen, wir können sie auf verschiedene Weise betrachten und von verschiedensten Perspektiven kommen, es kann manchmal jubilierend sein, es kann manchmal sehr tragisch sein oder fast resigniert, aber es ist nie in einer tyrannischen Weise so zielgerichtet."
Plädoyer für intellektuellen Hedonismus
Philipp Blom publizierte vor kurzem ein umfangreiches Werk über die sogenannte "radikale Aufklärung". "Böse Philosophen", so der Titel des Buches, stellt einen Kreis von Denkern um den deutschen Baron Holbach vor, in dessen Salon die kühnsten Visionäre jener Zeit aus- und eingingen, allen voran der Schriftsteller Denis Diderot.
Die "radikale Aufklärung", die diese Gruppe anstrebte, ist ein Plädoyer für intellektuellen Hedonismus, ein Aufruf zur puren, von religiösen und gesellschaftlichen Konventionen unabhängigen Lebensbejahung. In der "Chaconne" sieht Philipp Blom diese Auffassung widergespiegelt:
"Dass man aufgrund seiner physischen, sozialen und charakterlichen Gegebenheiten versucht, in verschiedensten Variationen Schönheit zu schaffen - und das ist durchaus auch, was die radikalen Aufklärer, über die ich geschrieben habe, meinen: dass es die Natur nun einmal gibt, die ist einfach sinnlos da, und wir sind genauso sinnlos da. Aber wir können dieser Sinnlosigkeit Schönheit abringen, wir können ihr Freundschaft abringen, wir können ihr tatsächlich einen Sinn geben. Und da passt für mich auch der musikalische Ausdruck sehr gut dazu."
Ein Anfang, eine Mitte und ein Ende
"Eine Welt für sich in 256 Takten", so wurde Bachs "Chaconne" auch schon bezeichnet. Eine Welt, die sich beim Zuhören individuell interpretieren und empfinden lässt. Der Wunsch, Deutungsmuster zu entwerfen, entspricht einem uralten menschlichen Bedürfnis nach Struktur, meint Blom:
"Es ist letztendlich die Weise, wie wir in dieser Welt nur überleben können: indem wir Ordnung und Muster hineinprojizieren in sie. Wir tun das im täglichen Leben, indem wir Geschichten erzählen. Wir führen ein Leben, das im Wesentlichen chaotisch ist, in dem die Dinge nicht vorhersagbar und nicht gerecht sind, in dem wir Dinge versuchen und nicht schaffen, in dem wir uns unglücklich verlieben, in dem es einfach keine Logik zu geben scheint. Wir können nur mit einem Muster überleben. Das ist zum Beispiel eine Geschichte, wo etwas doch belohnt oder bestraft wird, wo ein Anfang, eine logische Mitte und ein Ende da ist. Und das ist etwas, was auch Musik tut, wenn auch nicht so analytisch und nicht mit Worten."
Johann Sebastian Bach schuf im 18. Jahrhundert ein Werk, das die Epochen überdauerte. Für Philipp Blom, der übrigens die Einspielung von Gidon Kremer bevorzugt, stellt es am Beginn des 21. Jahrhunderts eine Insel der zeitlosen Wirkung dar:
"Es gibt einen Trost für das Chaos, das einen im eigentlichen Leben umgibt, für das Chaos des dauernden Scheiterns am Leben: Man kann sich trösten und helfen, indem man Struktur in den kreativen Äußerungen des Lebens entdeckt. Und da ist Musik etwas ganz Wichtiges, und da gibt es keinen Komponisten wie Bach, der das so tun kann."
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Philipp Blom
YouTube - Gidon Kremer, "Chaconne"