Musikmachen mit Handicap

Vom Cello-Stachel zur Fingerprothese

Wir nähern uns an, einer Welt, die erkennt, dass es die Normalhand nicht gibt, sondern dass wir alle diverser Hilfsmittel bedürfen. Vom persönlichen und gesellschaftlichen Umgang mit öffentlichen oder verborgenen Handicaps.

Wer ist behindert? Wer wird behindert?

Die Schöpfung ist ein Wunderwerk. Aber ein störanfälliges. Ein filigraner Balanceakt zwischen Norm und Normierung. Sie ist kein Versprechen von Dauerhaftigkeit, bleibt stets Gratwanderung zwischen dem Zufall, dass wir leben, und dem Umstand, wie wir leben.

Vom Leben, das plötzlich "anders" wird oder immer schon "anders" war, von festgefahrenen Handlungs-, Denk- und Gefühlsmustern, die ausweglose Bannkreise um Existenzen zirkeln, vom persönlichen und gesellschaftlichen Umgang mit öffentlichen oder verborgenen Handicaps handelt die siebente Anthologie aus der Reihe "Existenzielle Befindlichkeiten des 21. Jahrhunderts" - angeregt von einem langen komplizierten Beinbruch der Herausgeberin.

Die Literatur thematisiert, was die Musik oft verschämt verschweigt: das Leben mit einer körperlichen Einschränkung, sei es temporär oder für immer, sei es von Geburt an oder wenn älter geworden erworben. Letzteres ist ein besonders heikles Kapitel, dem wir uns in Apropos Musik - das Magazin einmal widmen werden, die besondere Diskretion, die im Musikberufsleben erworbene klinischen Zeichen bekommen. Aber das ein andermal.

Wittgenstein, Quasthoff, Perlman, Glennie

Hier nun also zu denen, die Hanns Eisler als "Krüppelgarde" besingt, die wir gerade noch als Solisten dulden, wie Itzak Perlman, Thomas Quasthoff oder die gehörlose Schlagzeugerin Evelyn Glennie, eher Männer als Frauen. Im Orchester dulden wir sie gar nicht, kein österreichsches Instrumentalensemble hat ein Mitglied im Rollstuhl oder mit einer anderen Einschränkung, der Behindertenanwalt ist erstaunt über meine Nachfrage, das sei ein bislang unbedachtes Thema.

Ein Amateurchorsänger darf im Rollstuhl nicht mit seinem Chor auftreten, das würde das Bild stören. Wenige Chorleiterinnen wie Ingrun Fussenegger gehen mit der Tatsache eines Mitglieds, das sitzen muss, oder das kleiner gewachsen ist, entspannt um.

Bewältigung der Einschränkung in der Musik

Musikmachen mit Behinderung - Beispiele aus Parallelwelten: der Alltag, wie die sanitären Anlagen oder die Aufgänge zu Gebäuden und U-Bahnen sind für Rollstuhlfahrende und andere geeignet. Oder die Sportwelt: Ein Läufer mit zwei Beinprothesen muss darum kämpfen, mit jenen Läufern mitzulaufen, die zwei gesunde Beine haben. Wie also geht die Musikwelt, wie gehen professionelle Ensembles mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen um?

Das Thema heute ist nicht die Einschränkung, sondern die Bewältigung der Einschränkung in der Musik, wie es Leon Fleisher mit einer lange Zeit gelähmten Hand gelang, wie es Paul Wittgenstein mit einer Armamputation gelang. Oder der junge Felix Klieser: Er spielt das Horn mit den Zehen. Alles geht mit den Zehen, sagt er, nur "Handstand geht einfach nicht." Er darf Musik studieren, er gewinnt Preise bei Jugend musiziert.

Neue Welten tun sich auf

In der Nachkriegzeit hatten Wiener Orchester Hornisten oder andere Musiker, denen ein Arm fehlt. Erhard Seyfried, 40 Jahre lange Mitglied des ORF Symphonieorchesters Wien, hat darüber ein Buch geschrieben. Für ihn, der Cellist und Hornist war, brach eine Welt zusammen und eine neue tat sich auf.

Es gibt Kulturen, die ihren Blinden bestimmte Instrumente reservieren. Die Rapsodensänger der griechischen Antiken, in Japan die Kotospieler und -spielerinnen - so werden sie aufgewertet und auf eine Weise auserwählt. Was heute also als besonders oder als außerhalb des Üblichen gilt, kann zu anderen Zeiten und in anderen Welten das zentrale, sogar das Erforderliche sein.

Abstandstaxe und Störfaktor

In Österreich wird lieber eine Abstandstaxe gezahlt, die jetzt auf 350 Euro erhöht wird, als dass Menschen mit einer körperlichen Einschränkung angestellt werden, der universitäre Bereich ist besonders nachlässig, der musikuniversitäre kaum weniger, wenn auch die Grazer KUG all ihre Beschilderung in Blindenschrift umgesetzt hat.

Ein Wandel der Sprache ist bemerkbar. Albert Sassman, Forscher an Paul-Wittgensteins-Repertoire, referiert die Lexikonbezeichnungen für einarmige Pianisten von kurios bis erstaunlich, von ablehnend-abschätzig bis anerkennend-bewundernd. Wir nähern uns an, einer Welt, die erkennt, dass es die Normalhand nicht gibt, sondern dass wir alle diverser Hilfsmittel bedürfen, von Cellostachel bis Kinnhalter, von eingebauten kleineren Tastaturen bis zur Fingerprothese.

Service

"Handicap Schicksal und Chance. Eine Anthologie", hrsg. von Batya Horn und Christian Baier, Edition Splitter, mit Beiträgen von Beiträge von Günter Brus, Christian Baier, Friederike Mayröcker, Juliane Ebner, Gerhard Rühm, Renald Deppe u. a.

"Empty Sleeve - der Pianist und Mäzen Paul Wittgenstein", hrsg. von Irene Suchy, Allan Janik und Georg Predoda, Innsbrucker Studienverlag

Erhard Seyfied, "Lebenserinnerungen eines einarmigen Musikers", Eigenverlag

Alnert Sassmann, "In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister" - PDF