Wanderung durch den Nationalpark Kalkalpen

Wildnis in Österreich

Mit seinen 209 Quadratkilometern ist das Gebiet heute der größte Waldnationalpark Österreichs. In ihm finden Adler, Hirsch und Luchs ein Rückzugsgebiet inmitten einer dicht besiedelten Kulturlandschaft.

"Ewig währt das Leben im Wald nur, wenn man gar nichts in ihm tut. Dann ist es ein Urwald, aber den will heute keiner mehr so recht haben. Die Besitzer nicht, weil er nichts bringt. Viele Förster nicht, weil ein Urwald auch ohne sie wächst; und viele Bürger nicht, weil man in einem unordentlichen Wald nicht ordentlich spazieren gehen kann."

Das hat der Publizist Host Stern einmal geschrieben. Ähnliche Reaktionen hat es gegeben, als 1997 der Nationalpark Kalkalpen in der oberösterreichischen Bergregion des Sengsen- und Hintergebirges gegründet wurde. Hat man in den ersten Jahren des Nationalparks noch da und dort heilende chirurgische Eingriffe vorgenommen, um dem Wald den Rückweg zu natürlicher Wildheit zu erleichtern, so zieht sich die Nationalpark-Verwaltung heute aus diesem Gebiet zurück. Bäume, die vom Sturm geknickt wurden, bleiben liegen und bilden den Lebensraum für seltene Pflanzen und Tierarten. Der Borkenkäfer ist im Nationalpark nicht Forstschädling, sondern wertvoller Teil der Ökologie.

Auf der Suche nach dem Luchs

Walter Wagner, der ehemalige österreichische Bärenanwalt, ist für Infrastruktur und Waldmanagement im Nationalpark Kalkalpen zuständig. Mit dem Peilempfänger im Auto macht er sich auf die Suche nach dem Luchs. 1996 kam die größte Raubkatze Europas in die Region.

Ob das Gerät den Luchs orten wird, ist nicht sicher und dass er das Tier zu Gesicht bekommen wird, ist eher unwahrscheinlich. "Das ist wie beim Lotto-Jackpot", sagt Walter Wagner, "das kommt entweder einmal im Leben vor, oder nie". In den letzten zehn Jahren haben erst zwei Mitarbeiter des Nationalparks den Luchs je ein Mal gesichtet.

Von Windischgarsten im Süden Oberösterreichs fährt Walter Wagner Richtung Nordosten, mitten ins Herz des Nationalparks. Zwischen Sengsengebirge und Reichraminger Hintergebirge auf rund 1000 Meter Seehöhe. Die Forststraßen sind abenteuerlich: voller Schlaglöcher, von hohen Gräsern und kleinen Büschen überwachsen. Die Straßen, auf denen früher noch 40 Tonnen schwere LKWs gefahren sind, sind mittlerweile aufgelassen worden. Im Nationalpark darf sich die Natur ihr Revier wieder zurückholen. Vor einer Fotofalle hält Wagner, er steckt die Speicherkarte in einen Fotoapparat und schaut nach, ob sie den Luchs abgelichtet hat.

Im Jahr 2000 ist erstmals eine Ablichtung mittels Fotofalle gelungen. Seither hat sich die Raubkatze insgesamt 60 Mal fotografieren lassen. Doch dieses Mal hat Walter Wagner kein Glück. Man sieht Fotos vom Sachbearbeiter, einen Hirsch, mehrere Gemsen, aber keinen Luchs.

Die Stöfflalm und der Borkenkäfer

Walter Wagner trägt die Enttäuschung mit Fassung und führt zur Stöfflalm. Die Bergrücken rund um die Alm sind durchzogen von breiten Streifen mit aschrauen, abgestorbenen Holzstämmen zwischen grünem Mischwald. Der Anblick wirkt trostlos.

Die Stöfflalm selbst ist das Herz des Hintergebirges. Früher wurde sie mit schnell wachsenden Fichtenmonokulturen aufgeforstet. Doch der Borkenkäfer hat die vor rund 70 Jahren gepflanzten Baumbestände mittlerweile stark angegriffen.

Links und rechts der Almwiese stehen daher Fichten aller Altersklassen. Junge frischgrüne Bäume, teilweise vom Rotwild angenagt. Alte Stämme liegen entwurzelt am Boden - totes Holz, in dem der Borkenkäfer sein Werk getan hat. Oder besser: tun durfte. "Man darf nicht glauben, dass unter den toten Bäumen nichts wächst. Im Erdgeschoß ist sozusagen die Jugend vorhanden." Wagner deutet auf eine junge Buche, die lange Zeit unter dem Schirm einer absterbenden Fichte gestanden ist. Nun bekommt sie mehr Licht, mehr Nährstoffe und wird in den nächsten Jahren massiv nach oben wachsen.

Im Nationalpark finden sich 30 verschiedene Waldgesellschaften – von Auwald über Fichten-Tannen-Buchen-Mischwald bis zur Krummholzregion. Schädlingsbekämpfung findet nur mehr in den Randzonen des Nationalparks statt, auf einer Fläche von 500 Metern bis zur Grenze, um eine Ausbreitung auf benachbarte Wirtschaftswälder zu verhindern.

Wo ist der Luchs?

Es geht weiter Richtung Norden, natürlich immer mit dem eingeschalteten Peilempfänger, dorthin, wo Walter Wagner den Luchs vermutet. Während der Fahrt zeigt er die teils bewaldeten, teils zerklüfteten Schluchten des Reichraminger Hintergebirges, durch die ein Wildbach seinen Weg gegraben hat. Im Nationalparkgebiet findet man 200 Kilometer unverbauter Bachläufe und 800 Quellen. Die unzugänglichen Bäche werden von der genetisch ältesten Form der heimischen Bachforelle bewohnt.

Er deutet auf den Hohen Nock. Mit seinen 1.963 Metern der höchste Gipfel im Nationalpark. Und dann bleibt Walter Wagner stehen und lauscht. Kann das Gerät den Luchs orten? "Wären wir in Niederösterreich, wo alles flach ist, wäre das jetzt kein Problem, ein Signal vom Luchs zu empfangen. Aber hier, mit den Bergen dazwischen? Das Streifgebiet des Luchses liegt zwischen 10- und 20.000 Hektar, er kann in der Nacht Distanzen von 20 Kilometern zurücklegen, also es ist nicht immer leicht, dem Luchs zu folgen", sagt Walter Wagner und lacht. Dann besucht er Michael Kirchweger im Bodinggraben.

Regulierung statt Jagd

Der Gebietsbetreuer und seine Familie sind die einzigen dauerhaften Bewohner des Nationalparks. Sie leben im sorgsam renovierten ehemaligen herrschaftlichen Jagdhaus des Fürsten Lamberg. Gebaut wurde es 1830. Die Terrasse gibt den Blick frei auf Ahorn-und Fichtenbäume, neben dem Haus rauscht ein Bach.

Michael Kirchweger ist für die Jagd im Nationalpark zuständig, die hier nicht "Jagd" genannt wird, sondern "Regulierung". Um den Nachwuchs zu kontrollieren, wird junges, weibliches Wild geschossen. Keine mehrjährigen männlichen Hirsche. Kirchweger darf auch keine Trophäen sammeln. Im Nationalpark dürfen alte Hirsche, deren Trophäen außerhalb des Gebietes um die 8.000 Euro wert sind, eines natürlichen Todes sterben.

Nachdem er Kaffee getrunken und Walter Wagner verabschiedet hat, führt Michael Kirchweger zur Blumauer Alm. Seinen Jagdhund hat er mit dabei. Entlang am Blöttenbach Richtung Westen, vorbei an verwüsteten Hängen voller Geröll, aus denen dünne Baumstämme ragen, wie Zahnstocher. Sie sind ein Resultat von Lawinenabgängen in den letzten Jahren. Auch hier wird in das Gebiet nicht mehr eingegriffen.

Die Alm ist in gut einer halben Stunde erreicht. Sie ist ein Ruhegebiet. Hier wird das ganze Jahr über kein Wild geschossen. Auf der Wiesenfläche kann man mit etwas Glück Reh und Hirsch aus nächster Nähe beobachten. Kirchweger hat schon vierzig Rehe und Hirsche auf einmal grasen gesehen.

Insgesamt befinden sich 500 Hirsche im Nationalpark, schätzt der Gebietsbetreuer. Und rund 800 bis 1.000 Gämsen. Michael Kirchweger hat sein Herz dem Nationalpark verschrieben. Als einzige Bewohner nehmen er und seine Familie auch dessen Regeln in Kauf: Das Holz zum Heizen darf nicht aus dem Wald entnommen werden. Es wird von außerhalb geliefert. Kräuter, Beeren, Pilze, im Nationalpark reichlich vorhanden, dürfen nicht gesammelt werden.

Die Falkenmauer

"Die Idee des Nationalparks ist, dass sich der Mensch aus 75 Prozent des Nationalparks völlig zurückzieht. Das ist Wildnis, und es fällt manchen Menschen schwer, das zuzulassen, aber es gibt kaum mehr Wildnisflächen in Europa", sagt Franz Sieghartsleitner. Der Marketingchef des Nationalparks Kalkalpen und der Botaniker Anton Sonnberger führen am nächsten Tag zur Falkenmauer im Reichraminger Hintergebirge.

Auch auf dieser Forststraße haben sich Büschchen und Büsche ausgebreitet. Grasfrösche hüpfen über den Weg, der Apollofalter flattert vorbei, eine von rund 1.500 Schmetterlingsarten im Nationalpark - und der Schwarzspecht warnt.

Im Schutz der Wälder gedeihen 1.000 Arten von Blütenpflanzen. Kostbarkeiten wie Enzian, Frauenschuh oder Alpenrose.

Dieser Weg, wie auch zahlreiche andere Strecken im Herzen des Nationalparks Kalkalpen sind auf keiner Wanderkarte eingezeichnet. In der entstehenden Waldwildnis sind Besucher willkommen, aber man möchte sie betreut wissen. "Wir wollen auf 10 Prozent der Nationalparkfläche 90 Prozent aller Besucher betreuen", sagt Franz Sieghartsleitner. "Es gibt ein großes Angebot an geführten Touren, wo man zwei bis drei Tage durch die Wildnis streifen kann."

Auf der Falkenmauer angekommen, erzählt Sieghartsleitner, wie er von hier aus Steinadlerpaare beobachten konnte. Insgesamt drei Steinadlerpaare haben hier gebrütet. Für ihn ein besonderer Ort.

Anton Sonnberger hat ein Geräusch gehört, er steht auf, schaut in die Hetzschlucht. Nichts. Eine Gämse, vermutet er. "Das Tier steht jetzt still und lauscht ebenso wie wir", sagt sein Begleiter. Beobachten, forschen, warten - im Nationalpark wird man - früher oder später - für seine Geduld belohnt. Sieghartsleitner: "Wenn man lange genug still sitzt, dann kommen die Tiere von alleine." Allerdings, so räumt er ein: "Das kann schon ein paar Stunden dauern."

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