Doug Saunders über Vororte
Arrival City
Doug Saunders stellt in seinem Buch fest, dass sich die ehemals ländliche Bevölkerung, die in die Vororte der Großstädte gezogen ist, verblüffend ähnliche städtische Umfelder schafft. Die Migranten folgen mehrheitlich Wegen, die Verwandte oder Nachbarn aus ihrem Dorf bereits gegangen sind.
8. April 2017, 21:58
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Die Menschen werden sich in einer großen, endgültigen Verschiebung vom Landleben und der Landwirtschaft wegbewegen und in die großen Städte gehen. Das ist die Entwicklung, die vom 21. Jahrhundert am deutlichsten in Erinnerung bleiben wird - wenn man vom Klimawandel einmal absieht. Wir werden gegen Ende dieses Jahrhunderts eine ganz und gar urbane Spezies sein. Diese Bewegung erfasst eine bisher noch nie dagewesene Zahl - zwei oder drei Milliarden, vielleicht ein Drittel der Weltbevölkerung - und wird nahezu alle Menschen auf spürbare Weise betreffen.
Der Journalist Doug Saunders hat ein großes Thema angepackt, er hat jahrelang umfangreiche Recherchen angestellt und 20 jener Orte an den Rändern der Megastädte besucht, in denen die Zuwanderer landen. Eine Karte am Einband des Buches zeigt diese Städte in Nord- und Südamerika, in Europa, Asien und Afrika. Es gibt viele Namen für die wilden Siedlungen: Slums, Favelas, Bidonvilles, Shantytowns, Urban Villages oder Barrios, in den reichen Staaten spricht man von Einwandererbezirken, Banlieus, Difficiles oder Migrantenvierteln. Saunders hat für sie den gemeinsamen Begriff "Arrival City" - "Ankunftsstadt" - geprägt.
Aufstieg oder Scheitern
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Wir müssen diesen Orten viel mehr Aufmerksamkeit schenken, denn sie sind nicht nur die Schauplätze potenzieller Konflikte und Gewalttaten, sondern auch die Gebiete, in denen sich der Abschied von der Armut vollzieht, in denen sich die nächste Mittelschicht herausbildet und die Träume, Bewegungen und Regierungen der nächsten Generation entstehen. Aber die wichtigste Botschaft wird von vielen Mitbürgern und führenden Persönlichkeiten nicht wahrgenommen: Die große Wanderbewegung manifestiert sich in der Schaffung eines ganz besonderen städtischen Ortes.
Und wie dieser besondere Ort, die Ankunftsstadt, beschaffen ist, entscheidet über Gelingen oder Scheitern der Migration, für beides bringt Saunders zahlreiche Beispiele: Erfolgreich sind etwa Liu Gong Li in Chongqing oder Mulund in Mumbai, die Saunders als "Dorf in der Stadt-Slum" charakterisiert. In der Enge und den kleinräumigen Strukturen funktionieren Netzwerke; die für den Übergang vom Land zur Stadt so wichtigen sozialen Bezüge können aufgebaut werden. In den behelfsmäßigen, ebenerdigen Hütten finden Läden und Kleinstbetriebe Platz, die eine Weiterentwicklung ermöglichen. In Hochhaussiedlungen dagegen, selbst wenn sie speziell für die Einwanderer gebaut wurden, kann sich derartiges Leben nicht entwickeln. Darum funktionieren die Ankunftsstädte in kleinräumigen Vororten von London oder Los Angeles besser als in den Wohntürmen der Banlieus von Paris oder Bijmermeer in Amsterdam.
Saunders beschreibt die Ankunftsstädte sehr anschaulich und illustriert sie durch die Lebensgeschichten einzelner Migranten. Man erfährt, unter welchen Opfern es viele schaffen, Besitzer der einst illegal errichteten Hütten zu werden und ihre Kinder in die Schule zu schicken. Er berichtet aber auch, wie viele scheitern und den Weg aus der Armut nicht finden, dennoch kehren die wenigsten zurück in ihre Dörfer.
Staatliche Unterstützung notwendig
Die Berichte zeigen aber auch: Eine gelingende Ankunftsstadt braucht politischen Willen und finanzielle Unterstützung beim Aufbau einer Infrastruktur, für Kanalisation, Verkehr, Straßenbeleuchtung und vor allem Schulen.
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Armut in der Stadt ist, den beengten Lebensverhältnissen und häufigen Demütigungen zum Trotz, immer eine Verbesserung gegenüber der Armut auf dem Land. Niemand investiert sein ganzes Leben und das Einkommen und die Gemütsruhe einer ganzen Generation einfach nur für den Umzug von einer Armut in die andere. Die Bewohner der Ankunftsstädte sehen sich selbst nicht als "die Armen" sondern als ziemlich erfolgreiche Stadtbewohner, die derzeit einfach nur einen Zeitraum der Armut durchleben.
Dadurch, dass Saunders sich mit der Wahl seines Themas "Ankunftsstadt" für eine spezielle Sichtweise auf die Migration entschieden hat, kann er neue Einsichten vermitteln. Er räumt mit falschen Vorstellungen auf, etwa, dass Migration vor allem von Männern getragen wird: Schon zu Beginn des Industriezeitalters waren es vielfach junge Frauen, die den Aufbruch in eine ungewisse Zukunft wagten. Saunders zeigt die Wechselwirkung zwischen Dorf und Stadt, welche Verbindungen aufrecht bleiben und vor allem, welche wichtige Rolle die Rücküberweisungen der Auswanderer für das Herkunftsland spielen. Sie trugen etwa in Polen dazu bei, dass die aktuelle Wirtschaftskrise vergleichsweise gut überstanden wurde. Verhindern konnten die Wanderungen vom Land in die Stadt nur totalitäre Regime.
Bei Saunders kann man nachlesen, dass die von Österreichs Politikern favorisierte Beschränkung der Migration auf "erwünschte" qualifizierte Fachkräfte, nicht zum behaupteten positiven Ergebnis führt. Die Ankunftsstädte waren und sind oft Orte der Unruhe, in denen Aufstände oder Revolutionen ihren Ausgang nehmen, in Zeiten des Übergangs suchen ihre Bewohner oft in rückwärtsgewandtem Denken und Traditionalismus Halt: So sind viele Türken in Berlin-Kreuzberg konservativer und radikaler als die Bewohner der Vororte in Istanbul.
Was braucht man?
Saunders erinnert schließlich im Nachwort des Buches an den Arabischen Frühling, der in Boulaq, einem Vorort von Kairo, begann: mit der Selbstverbrennung des verzweifelten Mohammed Bouazizi, der um seine Existenz gebracht worden war. Saunders wirft die Frage auf, die er als Schlüsselfrage unserer Zeit bezeichnet:
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Was braucht man, um innerhalb einer Generation den Weg von einer Hütte auf dem Land ins Zentrum des städtischen Mittelschichtlebens zu bewältigen? Oder innerhalb von zwei Generationen? Das ist schließlich die wichtigste Funktion der Ankunftsstadt, das einzige Ziel all dieser Hunderte Millionen von Reisen vom Dorf in die Stadt. Seltsam, dass wir so wenig darüber wissen, wie dieses Ziel zu erreichen ist.
Service
Doug Saunders, "Arrival City", aus dem Englischen übersetzt von Werner Roller, Blessing Verlag
Blessing - Arrival City