Das Festival Literatur im Fluss

Ein schwimmendes Literaturhaus

"Literatur im Fluss" ist heuer der Titel des traditionellen Wiener Festivals Literatur im Herbst. Prominente Autoren aus den Donauländern werden sich im Odeon in der Wiener Taborstraße mit der Donau als Kulturraum beschäftigen - darunter Friedrich Achleitner, Mircea Cartarescu, György Dalos, Christoph Ransmayr und Ilija Trojanow. Bereits seit September ist ein Literatur-Schiff auf der Donau unterwegs.

Die Veranstalter, der Kunstverein Wien Alte Schmiede, haben das Motto "Literatur im Fluss" wörtlich genommen: Sie haben bereits im September ein Schiff auf die Reise geschickt. Von Russe in Bulgarien bis nach Wien - eine fünfwöchige literarische Reise. Das Ö1 Kulturjournal war bei der Auftaktveranstaltung in Russe, dem ehemaligen Rustschuk an der rumänisch-bulgarischen Grenze, dabei.

Kultur aktuell, 27.10.2011

Literatur-Schiff

Sie kommen aus der Türkei und aus Serbien, aus Slowenien und Deutschland, aus Österreich, Bulgarien und Rumänien. Eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren haben sich im Hafen von Russe versammelt - an Deck eines Donauschiffes. Die Literaturwissenschaftlerin Penka Angelova führt durch den literarischen Herbstabend.

Natasa Kramberger ist 28, sie kommt aus Maribor, im Vorjahr wurde ihr Romandebüt mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet. "Brombeerhimmel" heißt das Buch und es erzählt von einem Leben zwischen Heimat und Fremde, zwischen Italien, Südamerika und Amsterdam.

Autoren fahren donauaufwärts

Kramberger macht sich auf den Weg. Mit Autorenkollegen und Übersetzern fährt sie donauaufwärts. Russe in Bulgarien, Cetate in Rumänien, Belgrad und Novi Sad in Serbien, das kroatische Vukovar, Budapest, Bratislava, Wien sind die Stationen ihrer Reise, einer Reise ins Ungewisse, wie sie sagt.

Die Donau - für Kramberger ist der Fluss ein Synonym für das Verbindende. Das genaue Gegenteil hat Penka Angelova jahrzehntelang erlebt: "Das war bis vor kurzem die allerschlimmste Grenze in Europa - mit ganz strengen Kontrollen und ganz teuren Überquerungen, Brückengebühren und Straßengebühren."

Gemeinsamkeiten herausarbeiten

Jetzt gehe es darum, die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, sagt Angelova: "Diese Donau ist das Bild dafür, wie auch unsere Kulturen zusammenleben. Wenn sie jetzt eine Handvoll Wasser von der Donau nehmen, können sie nicht trennen, welcher Tropfen vom Inn ist und welcher von der Pregau. Wenn alle Tröpfchen ihre Identität unbedingt beweisen wollen, dann kommt es zu einem Niedrigstniveau der Donau, dann können keine Schiffe mehr fahren."

Penka Angelova leitet die Elias-Canetti-Gesellschaft in Russe. Rustschuk hat die Stadt damals geheißen, in der Canetti anno 1905 geboren worden war. Wir machen uns auf den Weg zum Geschäftshaus seines Großvaters in der Alexandrowska-Strasse. An der Fassade prangt noch das Firmenschild "Elias A. Canetti & Söhne, Russe - Varna". Innen rohe Ziegelwände, ein Betonpfeiler stützt die Decke.

Canetti-Haus für alternative Szene

Von der vor Jahren groß angekündigten Sanierung des Gebäudes ist nichts zu sehen: "Während der kommunistischen Zeit war das ein Möbelgeschäft", so Angelova. "Und 1999 hat der Staat uns das Haus zur Verfügung gestellt. Ursprünglich wurde auch gleich ein Projekt gemacht, wie das Haus renoviert wird. Gott sei Dank wurde das nicht so renoviert, wie das vorgesehen war, mit Samt und Seide und was weiß Gott noch. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass dieses Haus für die alternative Szene gebraucht werden kann."

Das Canetti-Haus als alternatives Kulturzentrum für zeitgenössische Kunst und Performance. Die Canetti-Gesellschaft selbst ist im Theater der barocken Altstadt untergebracht. Und das Theaterfoyer wird als Ausstellungsraum genützt. Hier zeigt der Potsdamer Fotograf Frank Gaudlitz zum Auftakt der literarischen Donaureise sein Projekt "Warten auf Europa". Drei Jahre lang ist er durch den Donauraum gefahren und hat Menschen porträtiert.

Unerwartete Offenheit

Die Frage nach den Gemeinsamkeiten sollen seine Bilder beantworten: "Wenn ich in Osteuropa 50 Leute gefragt habe, ob ich sie fotografieren darf, haben 45 Leute ja gesagt. In Deutschland musste ich vielleicht 100 fragen, um einen zu fotografieren. Eine gewisse Offenheit ist für uns in Deutschland schon verloren gegangen."

Die Bilder zeigen aber auch die andere Seite der Medaille: Das was hier dokumentiert wurde, wird bald verschwinden, meint Gaudlitz: "Dem fotografischen Blick kann das nicht verborgen bleiben. Maramures zum Beispiel ist ja eine traditionsreiche Gegend im Nordwesten Rumäniens an der ukrainischen Grenze, die vor allem durch ihre Holzarchitektur auffallen. Da gibt es genug Wanderarbeiter, die in Italien oder Spanien arbeiten und die kommen mit sehr viel Geld. Dann werden die Ytong-Steine gekauft und dann werden Paläste dazwischen gebaut und die alten Häuser weggerissen. Da verändert sich das Bild. Wenn sich Bilder verändern, verändern sich Traditionen und Befindlichkeiten der Menschen."

Die Wünsche der neuen EU-Bürger

Wer sind diese Menschen, die vor wenigen Jahren EU-Bürger geworden sind oder es noch werden wollen? Wie leben sie und was unterscheidet sie? Und was sind ihre Wünsche? Die Porträts werden von kurzen Texten begleitet: "Seien wir vollwertige EU Bürger, seien wir in Europa zu Hause", appelliert Sandor Machath, 43 Jahre alt, aus Györ in Ungarn. Nebenan ein Porträt von Radoslav Georgiew Dropcev, 54, aus Gulyantsi in Bulgarien. Er meint: "Ich bin Frührentner und mein größter Wunsch wäre, dass sich meine Rente von 52 Lewa (ungefähr 26 Euro) verdoppeln würde." Und der porträtierte Osip Krezo, 67-jährig, Prkovci, Kroatien, fragt: "Wird man noch Schnaps brennen dürfen?".

Wünsche ganz anderer Art hat Ivayla Alexandrova: "Was wir brauchen, das ist Zivilcourage und schonungslose Offenheit, wenn es darum geht, über unsere Vergangenheit zu reden", meint die bulgarische Autorin. "Nur dann werden wir einen Schlussstrich ziehen können, und nur dann wird die Ostalgie überwunden, denn sie beruht einzig und allein auf Unkenntnis. Die repressive kommunistische Zeit muss aufgearbeitet werden, und zwar nicht nur aus historischer Sicht, die Auswirkungen in der Politik und Wirtschaft reichen ja bis in die heutige Zeit."

Erster bulgarischer Dokumentarroman

Für ihren Roman "Goreshto cherveno", das heißt soviel wie "Heißes Rot", hat sie jahrelang recherchiert. Es ist der erste bulgarische Dokumentarroman, der das historische Material des so genannten Volksgerichts der so genannten "sozialistischen Revolution" von 1945 aufarbeitet. Dafür gab es zwar hohe literarische Ehren, die erhoffte Debatte im Land ist aber nicht in Gang gekommen, sagt Alexandrova. Sie hofft auf Anstöße von außen - das Literaturschiff ist für sie ein willkommenes Podium.

Ohne Aufarbeitung der Vergangenheit gibt es keine gemeinsame Zukunft, meinte auf ebendiesem Podium auch der deutsch-rumänische Autor und Leiter des Literaturhauses Berlin Ernest Wichner.

"Es gibt hochoffizielle Regierungserklärungen, die den Kommunismus zum historischen Verbrechen machen. Aber das sind Erklärungen, die durch keine Konkreta unterfüttert sind. Die ganze Verbrechensgeschichte des Kommunismus ist nicht aufgearbeitet. Man ist sich einig: Das war verbrecherisch - und damit hat sich's. Was da im Einzelnen passiert ist, wie Schicksale aussehen, wie Familien ruiniert wurden, wie ganze Städte ruiniert wurden, das kann man zwar sehen, aber wie das vonstatten ging, das ist nicht aufgearbeitet."

Und da gebe es viel zu tun: "Die Medizinhistoriker könnten zum Beispiel untersuchen, wie sich die Psychiatrie durch die rumänische Geheimpolizei hat in Dienst nehmen lassen. Das gehörte doch zu ihrem Berufsethos, sich darum zu kümmern. Die Künstlerverbände müssten nachschauen, inwieweit ihre Verbände involviert waren in die Zensurmaßnahmen, Unterdrückung und Aussonderung von Schriftstellern und von Werken. Fast jede Berufsgruppe ist zur Unterdrückung in Dienst genommen worden. Das ist alles aufzuarbeiten."

Schwimmendes Literaturhaus

Geschichtsträchtig ist jedenfalls auch der Ort der Debatten: das Schiff - bzw. das schwimmende Literaturhaus, wie es der Initiator des Projekts Walter Famler nennt.

"Dieses Schiff 'MS Stadt Wien' wurde 1939 erbaut, direkt auf einem sogenannten 'Führerbefehl'. Die 'Stadt Wien' war ursprünglich ein Lazarettschiff im Zweiten Weltkrieg und ist hier herunten stationiert gewesen - bis 1944."

Schiff läuft am Mittwoch in Wien ein

Am Mittwoch, 26. Oktober 2011 ist die MS Stadt Wien in ihrem Zielhafen eingelaufen - bei der Brigittenauer Schleuse in Wien. Und am kommenden Wochenende gibt es dann im Odeon in der Wiener Taborstraße "Literatur im Fluss".

Literature in Flux ist ein gemeinsames Projekt des HALMA Netzwerkes mit lokalen Partnern in den jeweiligen Ländern. Finanziell wird es unterstützt von der Europäischen Kommission. Das etwas andere Donau-Festival steht unter der Schirmherrschaft der Deutschen, Kroatischen, Österreichischen, Rumänischen, Slowakischen und Ungarischen UNESCO-Kommissionen.

Textfassung: Rainer Elstner