Colin Crouch erklärt Zusammenhänge

Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus

Seit dem Platzen der Dotcom-Blase von 2000, der globalen Finanzkrise von 2008 und der momentanen Wirtschaftsschwäche im Euroraum und den USA hat sich das Bild gewandelt. Neokonservative Politiker, die rein den Mechanismen des Marktes vertrauen, und Investmentbanker und Spekulanten, die internationale Finanzmärkte als Spielwiese zur persönlichen Geldvermehrung ansehen, geraten unter Beschuss.

Überall bietet sich dasselbe Bild: Der Normalbürger, der mit oder ohne kleinem Aktienpaket von seiner Arbeit lebt, sieht die Felle seiner sozialen Absicherung davonschwimmen. Was bleibt, ist die nackte Angst vor dem Übermorgen. Da ist guter Rat teuer. In gewisser Weise Rat geben will der britische Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Colin Crouch. Sein schmaler Band "Postdemokratie", der bei uns vor drei Jahren erschien, wurde zum internationalen Bestseller. Jetzt legt Crouch nach, und das auf rund 250 Seiten. "Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus" heißt sein neues Buch.

"The Strange Non-Death of Neoliberalism" – so lautet der Originaltitel. "Non-Death", das heißt, dass neoliberale Wirtschaftssysteme eine Art "Untoten" darstellten, etwas Zombiehaftes – oder aber: Es ist ein System, das nicht sterben darf, weil wir nicht wissen, wie es anders weiter gehen soll.

Großkonzerne bevorzugt

Colin Crouch sieht den Untergang des Wohlfahrtsstaates, der vor allem Wahlfreiheit und soziale Grundabsicherung des Einzelnen im Auge hatte, nicht erst im Niedergang des real existierenden Sozialismus der Ostblock-Länder begründet, sondern er setzt ihn bereits in den 1970er Jahren an.

Colin Crouch zielt mit seinem Argumentationsweg auf eines: Das Szenario, wonach immer mehr Großkonzerne gegen den Willen der Staaten ihre Macht durchboxen, ist eine Legende, die Politiker in Umlauf setzen. Konzerne erzielen in der Hauptsache mehr Umsatz als Klein- oder mittelständische Betriebe. Und sie beschäftigen, bei guter Konjunkturlage, sichtbar mehr Menschen. Beides kommt Politikern nicht nur in Wahlkampfzeiten zugute.

Die Verflechtung von Politik und Wirtschaft

Präzise zeigt Crouch auf, wie die Verflechtung von Politik und Wirtschaft zugenommen hat. Um von marktwirtschaftlichen Vorgehensweisen zu lernen, ließ man sich zunehmend von Personen oder Gruppen aus dem privaten Sektor beraten. Die Firmen dieser Berater hatten es sodann leichter, an Aufträge der öffentlichen Hand heranzukommen. Das führte aber nicht nur zum Ausschluss von Konkurrenz. Crouch nennt konkrete Beispiele aus dem Vereinigten Königreich und aus den USA, wonach Politiker nach dem Ende ihrer Karriere lukrative Posten in der Privatindustrie eingenommen haben. Und in Deutschland und Österreich ist das ja nicht anders. Der rasche und unkomplizierte Wechsel von Politikern in die Vorstandsetagen privater Unternehmen macht so manchen Bürger staunen.

Doch Colin Crouch hat noch mehr zu sagen: Die Ausbildung von Großkonzernen als Aktiengesellschaft hat auch etwas mit der Globalisierung zu tun. Transnationale Unternehmen, die von überall aus agieren können, befördern auch den internationalen Geldverkehr. Und als dieser im Bankensystem fest installiert war, witterte auch die Politik den Segen der Geldvermehrung.

Annahmen und Spekulationen

Landesbanken, die eigentlich im regionalen Raum Klein- und Mittelunternehmen mit Krediten versorgen sollten, mischten plötzlich auf Geheiß der Politik im internationalen Geschäft mit – ohne dafür das nötige Knowhow zu haben. Frei nach dem Neoliberalismus amerikanischer Gangart wurde zudem der sogenannte "kleine Mann" mit Geld versorgt. Ungesicherte Hypotheken- und Kreditkartenschulden, aber vor allem die Lockerung von Richtlinien bei der Eigenheimfinanzierung brachte extrem viel Geld in Umlauf. Als dann noch der Handel, bestehend aus einem Mix aus seriösen Aktien und fragwürdigen Wetten, auf Wertpapierkurse gang und gäbe wurde, schien das kapitalistische Paradies des Neoliberalismus greifbar nahe. Ein Paradies, das zudem in seinem Wachstum berechenbar und voraussehbar erschien, indem man sich auf eine "Kennzahl" verließ - den "Aktienpreis".

In diesem in sich zusammengefallen Kartenhaus aus Aktien, Anleihen und Derivaten versuchen wir uns derzeit wieder mühsam aufzurichten. Doch wer glaubt, dass nun Einsicht in Wirtschaft und Politik einkehren werde, den belehrt Colin Crouch eines Besseren.

Schlacht um die Moral

Das heißt nichts anderes: Dotcom-Blase von 2000, die globale Finanzkrise von 2008 und die momentane Wirtschaftsschwäche im Euroraum und den USA sind nur Markierungen auf einer Entwicklungsskala, deren "Endpunkt" wir uns gar nicht ausmalen wollen. Das neoliberale Wirtschaftssystem ist und bleibt ein "Non-Death", ein "Untoter", der nur so von Kraft strotzt.

Aber hat denn Colin Crouch gar keinen Rat, was der Mensch als demokratisches Zwergenwesen tun kann? Doch! Man müsse sich in "Zivilgesellschaften" organisieren. Beispiele wären "Ärzte ohne Grenzen" oder "Greenpeace", die weltweit agieren und Staaten wie Konzernen ganz schön zu schaffen machen. Interessanterweise setzt Crouch auch auf die Kirchen. Und das hat einen Grund:

Man kann es nicht anders sagen: Wer Colin Crouchs Buch "Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus" zur Hand nimmt, der erspart sich eine Menge anderer Bücher um zu verstehen, warum es so kommen musste, wie es tatsächlich kam. Und man versteht noch eines: Gegen Untote hilft kein Zauberspruch oder eine Wunderwaffe, sondern das aktive Wehrverhalten lebendiger Demokraten.

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Colin Crouch, "Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus", Edition Suhrkamp