Chronik des Ghettos
Die Elenden von Lódź
In Lódź war in den Jahren 1939 bis 44 eines der größten Ghettos des Deutschen Reiches. Steve Sem-Sandbergs Roman schildert in bislang wohl nicht gekannter Ausführlichkeit und Detailliertheit den Alltag im Ghetto und die verzweifelten Versuche, das Leben zu regeln.
8. April 2017, 21:58
Die Zeitzeugen des Nationalsozialismus werden immer weniger, je weiter seine Zeit zurückliegt. In einigen Jahren wird man niemanden mehr befragen können, der ihn erlebt hat, niemanden mehr in die Schulen oder zu Gedenkfeiern bitten können, und die Diskussionen werden nur noch von Nachgeborenen geführt werden, die ihr Wissen aus Büchern oder vom Hörensagen haben. Irgendwann wird der Nationalsozialismus "kalte" Geschichte werden - wie der Erste Weltkrieg oder die Revolution von 1848. Und in der Literatur wird die NS-Zeit sozusagen "frei verfügbar".
"Die Überlebenden müssen sich damit abfinden: Auschwitz entgleitet ihren mit dem Alter immer schwächer werdenden Händen. Aber wem wird es gehören? Keine Frage: der nächsten Generation und den darauf folgenden - natürlich nur, solange sie Anspruch darauf erheben."
Mit diesen Sätzen beginnt ein Essay des Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész über Roberto Benignis Film "Das Leben ist schön". Auch der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg, Jahrgang 1858, gehört zu dieser nächsten Generation und hat das Ghetto von Lódź, dessen Alltag er auf über 600 Seiten beschreibt, nicht mit eigenen Augen gesehen. Sein Roman "Die Elenden von Lódź" stützt sich auf die mehr als 3.000 Seiten umfassende Chronik dieses Ghettos. Schon darin liegt ein großer Wert dieses hochgelobten und in zahlreichen Sprachen erscheinenden Buches: Dass es dieser bislang wohl nur von Insidern gelesenen Chronik die Aufmerksamkeit verschafft, die ihr gebührt.
Strenge Hierarchie
In Lódź oder Litzmannstadt, wie die Nazis die polnische Stadt nannten, war in den Jahren 1939 bis 44 eines der größten Ghettos des Deutschen Reiches - ein Durchgangslager für die Transporte in die Konzentrationslager von Auschwitz, Majdanek oder Treblinka. Sem-Sandbergs Roman schildert in bislang wohl nicht gekannter Ausführlichkeit und Detailliertheit den Alltag im Ghetto und die verzweifelten Versuche, das Leben zu regeln.
Was dabei zutage tritt, ist schockierend: Wegen der immer wieder unvorstellbaren Grausamkeit der Nazis, auch wenn man viel von ihr weiß, aber auch wegen der Modalitäten des Zusammenlebens der internierten Juden. Da zeigt sich eine strenge Hierarchie mit allen Begleiterscheinungen wie Bestechung, Kindesmissbrauch oder Freunderlwirtschaft, die andere in den Tod schickt.
Authentische Darstellung
Im Mittelpunkt des Romans steht Mordechai Chaim Rumkowski, der Vorsitzende des Judenrates oder "Präses", wie er oft genannt wird: ein absolutistischer Herrscher, der sich gerne durchs Ghetto fahren lässt und beim geringsten Widerstand keine Gnade kennt; der das Ghetto als seinen persönlichen Besitz betrachtet - auch seine Frauen und Kinder. Und einer, dem es persönlich an nichts mangelt.
Ein Verdienst des Romans "Die Elenden von Lódź" ist es sicher auch, Rumkowski und sein System so authentisch als möglich darzustellen und nicht aus Angst, nur ja keinen Antisemitismus zu schüren, Schönfärberei zu betreiben. Denn die skrupellose Brutalität, die hier zutage tritt, spricht nicht gegen die Juden des Ghettos, sie zeigt nur, dass sich Überlebenskampf und "ein guter Mensch sein" meist ausschließen. Und dass man, zur Kollaboration gezwungen, selbst zum Zyniker werden muss.
Persönliche Grenzen
War Rumkowski ein willfähriger Helfershelfer der Nazis - oder einer, der alles tat und Menschen kaltblütig opferte, nur um möglichst viele retten zu können. Die meisten überlebenden Zeugen, so schreibt Sem-Sandberg in seinem sehr wichtigen Nachwort zum Roman, stellten Rumkowski "als gewissenlosen Karrieristen und Kollaborateur dar". Doch der Autor hält dagegen: "Und doch gab es offensichtlich einen Punkt, an dem sich selbst Mordechai Chaim Rumkowski gezwungen sah, seinen Blick abzuwenden und 'nein' zu sagen. Genau um diesen Punkt geht es in dem Roman."
Über die Rolle Rumkowskis, aber auch über die der von den Nazis in den Ghettos eingesetzten Judenräte insgesamt gehen die Meinungen der überlebenden Zeugen weit auseinander. Wobei noch gesagt werden muss, dass von denen, die Teil des Systems Rumkowski waren oder daraus Nutzen zogen, mehr Menschen überlebten als von seinen Gegnern. Und dass, wie Sem-Sandberg im Nachwort auch festhält, schon die Perspektive der Ghetto-Chronik eine von Rumkowski kontrollierte ist.
Schockierende Details
Hat man den Roman zu Ende gelesen, stößt man auf diese differenzierten Reflexionen des Autors, der sich mit seinem Stoff und dem vorgefundenen Material sicher intensiv und lange auseinandergesetzt hat. Es ist wichtig, dass das jemand getan hat, der - so viel aus seiner Biografie bekannt ist - weder aus einer Opfer- noch aus einer Täterfamilie kommt und aus einem Land stammt, das am Holocaust nicht beteiligt war. Und eben, um noch einmal an Imre Kertész zu erinnern, aus der Generation derer, die den Nationalsozialismus nicht mehr selbst erlebt haben. Denn der Holocaust ist eben, wie gerade Kertész immer wieder festgehalten hat, nicht nur eine Angelegenheit seiner Opfer, sondern der europäischen Kultur, die eine Kultur nach Auschwitz ist.
Liest man Sem-Sandbergs Roman "Die Elenden von Lódź", so findet man von solchen Reflexionen freilich so gut wie nichts. Mit großer Selbstverständlichkeit lässt er sich in einen Detail-Realismus hineinfallen und vertraut völlig ungebrochen auf ein hausbackenes Erzählen. Wenn es gerade passt, weiß der gute alte auktoriale Erzähler über das Innenleben seiner Figuren immer Bescheid.
Vor allem Rumkowski wird psychologisch so genau geschildert, dass er aus seiner Lebensgeschichte geradezu verständlich wird. Der Schock, den der Roman vermittelt, geht von den Details aus, nicht von der schreienden Unverständlichkeit des Ganzen.
Die Chronik zum Sprechen gebracht
Nach der Lektüre weiß man über das Ghettoleben quälend genau Bescheid - aber was der Holocaust bis heute bedeutet, versteht man viel eher aus den Werken von Imre Kertész, Ruth Klüger oder Abraham Sutzkever. Und das hat ganz und gar nicht damit zu tun, dass sie den Holocaust selbst er- und überlebt haben. Auch die Polin Zyta Rudska gehört der nachfolgenden Generation an und hat mit "Doktor Josefs Schönste" einen Roman geschrieben, wo der Schock der Erinnerung in den Sätzen sitzt, nicht in den geschilderten Szenen.
Sem-Sandberg versinkt in den Details - stellenweise scheint der Roman wie in der Getto-Chronik ertrunken. Das zeigt vor allem ein Vergleich mit dem inzwischen auch verfilmten Stück "Ghetto" von Joshua Sobol, das ebenfalls auf Dokumenten und Recherche basiert. Wie wenig Raum braucht es dort, um die zwielichtige Rolle von Jacob Gens, dem Vorsitzenden des Judenrates, zu beleuchten! Mit welcher dramatischen Intensität werden seine Argumente mit denen des Bibliothekars konfrontiert - der war ein Linker, ein "Bundist".
Diese jüdisch-sozialistische Strömung kommt auch in Sem-Sandbergs Roman vor - nur erfährt man nichts von ihr. Rumkowski, eine mit Jacob Gens durchaus vergleichbare Figur, wird praktisch nur in seinen eigenen Argumenten greifbar. Im Vergleich mit Sobols "Ghetto" wirkt "Die Elenden von Lódź", respektlos gesagt, stellenweise wie ein historischer Kostümschinken, der im Ghetto spielt.
Dennoch: Dieser Roman ist weit besser als die Mischung von Halbdokumentarischem und plumper Fiktion, die der amerikanisch-französische Autor Jonathan Littell vor einigen Jahren in seinem Roman "Die Wohlgesinnten" zusammengekleistert hat. Sem-Sandbergs größtes Verdienst: Er hat die Ghetto-Chronik von Lódź literarisch zum Sprechen gebracht und dabei ein Werk geschaffen, das die Erinnerung an den Holocaust wach hält. Leider tut er das mit einem großen Aufwand an Stoff und vergleichsweise bescheidenen literarischen Mitteln. Darum ermüdet man gelegentlich beim Lesen, wenn das Grauen einmal nachlässt.
Service
Steve Sem-Sandberg, "Die Elenden von Lódź", aus dem Schwedischen übersetzt von Gisela Kosubek, Verlag Klett-Cotta