Algerienkämpfer und ihr Trauma

Die Wunde

Laurent Mauvignier hat es in seinen Romanen auf Zustände abgesehen, die einen Menschen sprachlos machen können: Schocks, Traumata, Verletzungen, Hoffnungslosigkeiten aller Art. Er untersucht, was genau dann passiert – wenn es keine Worte mehr gibt. Wenn ein Mensch aus Verzweiflung verstummt. So auch in seinem siebten Roman "Die Wunde".

Offene Rechnung

Ein kalter Tag in Le Migne, als Solange ihren 60. Geburtstag feiert. Auch ihr Bruder, der Säufer Bernard, das schwarze Schaf der Familie, ist gekommen. Er übergibt sein Geschenk: Eine diamantbesetzte Goldbrosche. Sofort entsteht Tumult, Aufruhr. Wem hat Bernard das Geld dafür geklaut? Anders kann es ja nicht sein. Schließlich hatten die Geschwister ihn durchfüttern müssen, seit er aus Algerien zurückgekommen ist. Solange gibt ihrem Bruder die Brosche zurück und bittet ihn zu gehen. Der deutet wütend auf Said Chefraoui, einen Kollegen der Schwester und schreit: "Und der darf hier sein. Bougnoule, Drecksaraber." Da ist eine offene Rechnung zu begleichen, schreibt Mauvigner. Und es ist nicht nur die Bernards.

"Ich habe meine Kindheit in einem Dorf verbracht, wo alle Männer, auch mein Vater, meine Onkel, eingezogen wurden, um in Algerien zu kämpfen", sagt Laurent Mauvignier. "Sie kamen zurück und haben niemals davon gesprochen. Für mich war das ein Rätsel. Darüber zu schreiben war auch ein Versuch, die Generation meines Vaters zu verstehen."

Trügerische Fotos

Mauvigniers Vater hat sich Jahre nach seiner Rückkehr aus Algerien umgebracht. Nachdem Mauvigniers Roman "Des Hommes", zu Deutsch "Die Wunde" erschienen war, kontaktierten ihn Ärzte, die an einer Studie über das Thema Selbstmorde in Frankreich arbeiteten. "Einer von ihnen hat mir gesagt, dass unter den Männern, die sich in den letzten 30 Jahren umbrachten, glaube ich, 80 Prozent ehemalige Algerienkämpfer waren."

Der Algerienkämpfer Bernard im Roman wählt eine Art verlängerten Selbstmord mit Alkohol. Mauvignier beschreibt die Atmosphäre sprachloser Bedrücktheit in Le Migne, dem Dorf, in dem auch Rabut, der Cousin Bernards, lebt. Auch er ein ehemaliger Soldat in Algerien. Rabut geht ein Satz nicht aus dem Kopf. Gerne würde er ihn einmal seiner Frau gegenüber aussprechen, aber er wagt es nicht, wegen der Fragen, die dann kommen würden. Der Satz geht so: "Weißt du, Nicole, man weint nachts, weil man eines Tages durch Bilder, die so grauenvoll sind, dass man sie sich selbst nicht eingestehen kann, fürs Leben gezeichnet wurde."

"Seltsam war, dass jede Familie Fotos hatte, die der Vater aus Algerien mitgebracht hatte", erzählt Mauvignier. "Bilder von trinkenden, kartenspielenden Kameraden. Jeder wusste, dass das nicht alles gewesen sein konnte. Diese friedlichen Bilder. Auch weil der Heimkehrer nichts erzählte. Da war nur Schweigen."

Allein Mauvigniers Mutter erzählte ihrem Sohn etwas, eine einzige Begebenheit: dass ihr Mann Soldaten gesehen habe, wie sie eine schwangere Frau mit ihren Stiefeln traten. "Das ist alles. Ich habe nur das Bisschen plus Fotos, auf denen sich absolut nichts abspielt. Selbstverständlich findet sich nie ein Algerier darauf. Das ist sehr verstörend. Und für einen Schriftsteller ist es unmöglich, nicht darüber zu schreiben."

Zeugen von Gräueltaten

Der Algerienkrieg ist kein Tabu in Frankreich, zahllose Romane und wissenschaftliche Untersuchungen sind zum Thema erschienen. Trotzdem: Einige schmutzige Details des Krieges sind auch heute noch nicht bis ins öffentliche Bewusstsein vorgedrungen. Zum Beispiel, dass die französische Armee Napalmbomben über Algerien abwarf. "Ich wusste das auch nicht, bevor ich mit den Arbeiten an dem Buch begann", sagt Mauvignier. "Aber die Algerier, die wissen davon. Sie haben all diese Bilder im Gedächtnis. Während wir in Frankreich nie etwas davon gesehen haben."

In "Die Wunde" erzählt er die Geschichte der Söhne von Le Migne, die 1960 eingezogen werden, um Partisanen in der damaligen französischen Kolonie Algerien zu bekämpfen. Sie dachten, es sei ein guter Krieg, freuten sich auf orientalische Bordelle und ein paar faule Monate. Stattdessen werden sie Zeugen von Gräueltaten. Sie sehen von Napalm verkohlte Körper, Franzosen, die kleine Mädchen vergewaltigen und Mütter erschießen, weil die den Aufenthaltsort ihrer Männer nicht verraten, und sie sehen hungernde Algerier, denen man verboten hat, ihre Felder zu bestellen.

"Auch das sind Menschen"

Bernard, der die Erzählungen seiner Eltern über die Brutalität der deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg noch in Erinnerung hat, denkt: "Hier führen wir uns auf wie die Deutschen damals bei uns, und mehr wert sind wir auch nicht." Er überlegt, ob es besser wäre, ein Fellache, einer der algerischen Freischärler zu sein, aber da fällt ihm der algerische Arzt ein, der immer gekommen war, wenn einer von ihnen sich krank fühlte. Vor ein paar Tagen hatten sie ihn tot und grausam zugerichtet vor der eigenen Kaserne gefunden, mit einem Schild um den Hals: "Geht heim, Franzosen. Eure Familien warten auf Euch."

Bernard fragt sich, ob das noch Menschen sind, die so etwas tun können. Und kommt zu dem Ergebnis: Ja, "doch. Auch das sind Menschen". Vielleicht ist das der Moment, wo er den Willen oder die Kraft verliert, sich einen Platz in der menschlichen Gemeinschaft zu suchen.

"Als das Buch in Frankreich herauskam, bin ich durch das Land getourt und habe in unzähligen Buchhandlungen daraus gelesen", so Mauvignier. "Und es war seltsam zu erleben, wie gegenwärtig und lebendig der Schmerz immer noch ist. Das Ganze ist noch nicht verarbeitet. Es gibt immer noch Leute, die denken, dass Algerien besser zu Frankreich gehörte. Das Thema birgt weiterhin Stoff für Konflikte." Auch mit Blick auf 2012, wenn es die Gedenkfeiern zum Ende des Algerienkriegs vor 50 Jahren geben wird. "Es ist schon erstaunlich, dass die Leute dann heute vor einem stehen mit ihren Büchern, und Widmungen für jemanden haben wollen, der damals gefallen ist. Einige weinten sogar."

Die Hölle vor dem Krieg

Mit seinem Roman "Die Wunde" will er aber genau das zeigen, nämlich wie einer auch Jahrzehnte später keine Erlösung findet. Und in der Hölle seiner Erinnerung lebt wie in einem Gefängnis. Aber Bernard hatte schon eine Hölle, bevor er in den Krieg ziehen musste. Seine Mutter mochte ihn nicht und der Vater behandelte ihn mit Gleichgültigkeit. Er litt schon als Kind an unsagbarer Einsamkeit, an Schmerzen, die er mit niemandem teilen konnte. Er hielt sich an kleinen Tieren schadlos, die er quälte, und er behandelte seine Geschwister mit Verachtung.

Nach seiner Rückkehr, das gleiche Schema. Er sucht sich den schwächsten Dorfbewohner: den Algerier Said Chefraoui, Angestellter in einer Schulkantine. Ihm droht er schon lange. Und nach dem Rauswurf auf dem Geburtstag Solanges fährt Bernard mit seinem Mofa zum Haus der Familie Saids, tötet erst den Hund und vergreift sich dann an Saids Frau. Mauvignier hat Saids Heimkehr vom Geburtstagsfest wie in Zeitlupe beschrieben. Der Mann ahnt etwas, weil es zu still ist im Haus, weil der Hund ihn nicht begrüßt, aber er zaudert und scheut sich, genauer nachzusehen.

"Ich wusste, dass ich diese Szene beschreiben wollte und ungefähr, wie sie ablaufen könnte", sagt Mauvignier. "Aber ich hatte derart Angst davor... Ich sagte mir, das wird dir nie gelingen. Also bremse ich ab. Ich will da gar nicht reingehen."

Said erleidet einen Schock, seine Wahrnehmung verfeinert sich ins Unerträgliche. Aber erst einmal beruhigt er sich mit einem Blick auf das Geschirr, dass wie immer auf dem Ablauf steht, dem Ticken der Küchenuhr. Dann findet er seine Kinder. Der Älteste steht stumm am Fenster und sieht hinaus. Das 13-jährige Mädchen wiegt sich wie im Gebet: Alles wird gut. Alles wird gut mit Maman. Jetzt wittert er den Geruch Bernards im Haus, eine Mischung aus verkohltem Holz, Schnaps und Schmutz. Sekunden vergehen wie Stunden.

"Ich beschreibe eine Menge Kleinigkeiten, die den Moment verzögern, bis ich dann doch zu der Szene komme, die mir Probleme bereitet", sagt Mauvignier. "Es zieht und zieht sich und manchmal schreibe ich 40 Seiten für etwas, das man in drei Zeilen beschreiben könnte. Weil ich solche Angst habe."

Die Unaussprechlichkeit des Schreckens

Wie ein Kind, das die Augen verdeckt, und glaubt, auf diese Weise unsichtbar zu sein, versinkt Said in der Betrachtung der Schachtel auf dem Küchentisch, in der kleine Geburtstagskerzen aufbewahrt sind. Denn er weiß instinktiv, dass sein Leben in dem französischen Dorf eine furchtbare Wendung genommen hat. Nicht nur den Täter, auch das Opfer wird man bezichtigen, die Ruhe zu stören. Durch das Aufheulen des Mofas in seinem Hof wacht er auf. Er muss handeln. Jetzt rennt er nach unten und versucht, den fliehenden Bernard zu stoppen.

Laurent Mauvignier hat mit "Die Wunde" einen Roman geschrieben, in dessen Zentrum das Schweigen steht. Jeder Mensch die Endstation seines Schmerzes, eine ein für alle Mal versiegelte Kammer. Die Unaussprechlichkeit des Schreckens isoliert den einen vom anderen. Sie nagelt die Menschen in ihrer Vergangenheit fest. Und verurteilt sie zu einem Leben als Phantom dieses Schreckens. Für die Beteiligten gibt es keine Worte der Erlösung, scheint Mauvignier zu sagen. Aber das Schweigen ist sehr beredt in den Ohren der Nachkommen. Die Schreckens-Stille klingt ihnen gellend laut in den Ohren. Deshalb suchte einer von ihnen, Laurent Mauvignier, Worte dafür.

Service

Laurent Mauvignier, "Die Wunde", aus dem Französischen übersetzt von Annette Lallemand, dtv premium

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