Veronique Gens auf Entdeckungsreise
Beeindruckende "Tragédiennes"
So sollten Gesangs-Recitals sein: interessantes Programm, persönlich gestaltet, und im Idealfall darf es passieren, dass einem der Mund offen bleibt - der Musik wegen. "Tragédiennes 3" der Sopranistin Veronique Gens erfüllt alle diese Kriterien.
8. April 2017, 21:58
Rodolphe Kreutzer
Ausschnitt aus "Astynax"
Gerne tourt Veronique Gens mit Lieder-Programmen in ihrer Heimatsprache, in denen es auch Fauré, Debussy, Poulenc sein darf und bei denen sich die französische Sopranistin in ihrer noblen Art hörbar wohl fühlt. Bei den Opernpartien von Veronique Gens ist ein "Fach" nicht wirklich zu benennen: Sie hat Mozart gesungen, jede Menge Alter Musik, aber auch Ausgewähltes aus dem 19. Jahrhundert, mit Berlioz als Endpunkt.
Zu den Eigenarten ihrer stets etwas kühl wirkenden, sicher nicht "einschmeichelnden" Stimme gehören "Größe" oder "Durchschlagskraft" gewiss nicht. Für ein derartiges Stimmnaturell bleibt nur ein Weg: in die Individualität. Im Fall von Veronique Gens haben in den letzten Jahren zwei Arien-Recitals abseits ausgetretener Pfade diesen Weg bereits deutlich erkennen lassen: Unter den Übertiteln "Tragédiennes" und "Tragédiennes 2" ging es in gemächlichem Schritt durch die französische Operngeschichte, von deren "Klassikern" Lully und Rameau, Campra und Leclair, bis zu den stürmisch-drängerischen Komponisten Gluck und Sacchini.
Feinnervige musikalische Unterstützung
Cherubini und (auch hier) Berlioz markierten einstweilen die Repertoire-Grenzen in Richtung Romantik. Eine spezielle Farbe dieser beiden CDs kam vom mehr als "begleitenden" Orchester: Christophe Rousset, einer der führenden Köpfe am Sektor "historische Aufführungspraxis", war Partner bei der Programmgestaltung und sorgte mit seinem Ensemble Les Talens Lyriques für die feine und feinnervige musikalische Unterstützung.
Gossec und Méhul im neuen alten Klang
Jetzt ist die Fortsetzung da, "Tragédiennes 3", die Entdeckungsreise kann weiter gehen - und sie fördert, wenn sich der Schwerpunkt weiter in Richtung 19. Jahrhundert verlagert, gerade bei den unbekanntesten Komponistennamen Spannendes und Überraschendes zutage. Was kennt "man" denn wirklich, trotz einiger Wiedererweckungsversuche zuletzt, von Francois-Joseph Gossec, oder auch von Étienne Nicolas Méhul, zwei Meistern aus der "Rettungsopern"-Zeit etwa parallel zur Französischen Revolution?
Veronique Gens präsentiert ihren Méhul mit Grandeur und Gossec mit einem furiosen Ausschnitt aus dem "Thesée" von 1782. Wer diesen Übergangsstil über die reine Gluck-Nachfolge hinaus bisher vor allem in würdigen Interpretationen aus der Hand Riccardo Mutis kannte (seine Meriten beim "Ausgraben" von Raritäten zwischen Gluck und Spontini bleiben unbestritten!), hört mit Begeisterung, wie viel mehr an Nuancen sich da noch herauskitzeln lässt, wenn die Ausführenden mit Originalinstrumenten und der insgesamt leichteren, beweglicheren, vielleicht auch herberen Stimmführung an die Sache herangehen, die der Umgang mit barocker Musik lehrt.
Aus dem Fundus geholt
Ähnliche Erfahrungen lassen sich machen, wenn sich Veronique Gens und Christophe Rousset Musik von Camille Saint-Saens vornehmen ("Henri VIII"), oder die bei uns von der seinerzeitigen Hermann-Nitsch-Produktion an der Wiener Staatsoper noch bekannte "Hérodiade" von Jules Massenet, immerhin auch schon "Jahrgang" 1881.
Wer die Geschichte rund um Salome, Johannes den Täufer, Herodes und Herodias mit einer veristisch auftrumpfenden Agnes Baltsa in der Titelrolle im Ohr hat (zweifellos imponierend!), erlebt hier nun ein komplett neues Stück. Mit Auguste Mermet kommt ein Komponist an die Reihe, über den sogar Wikipedia kaum etwas zu erzählen weiß - Berlioz-Stil liegt in der Luft in der packenden, facettenreichen Arie aus Mermets "Roland à Ronceveaux" -, und dass mit der Oper "Astyanax" auch einmal Rodolphe Kreutzer zum Zug kommt, bringt eine Fußnote aus Beethoven-Biografien zum Klingen.
Ihm hat Ludwig van Beethoven nämlich die "Kreutzer-Sonate" gewidmet, die Kreutzer dann aber nie spielte, weil er sie als Tortur für die Geige empfand. Rodolphe Kreutzer war eine Doppelbegabung Instrumentalist-Komponist; in den 1820er Jahren sollte er zum Leiter der Opéra in Paris bestellt werden, königlicher Kapellmeister war er schon früher, Opern mit hellenistischen Stoffen (weiterhin à la Gluck) schrieb er, seit er noch bei Anton Stamitz studierte. Die von Veronique Gens gesungene "Astyanax"-Arie saust vorbei wie ein Wirbelwind - wie mag der Rest der 1801 uraufgeführten Oper sein?
Giuseppe Verdi
Ausschnitt aus "Don Carlos"
Originalklang auch für Verdi
Kurzum: Solche Plattenproduktionen wie die "Tragédiennes 3" bringen etwas weiter. Und besonders spannend wird es, wenn "Don Carlos" von Giuseppe Verdi an die Reihe kommt, die Elisabeth-Szene aus dem Schlussakt, natürlich in der französischen Urversion.
Da ist der Klang, den die groß besetzten "Talens Lyriques" mit Christophe Rousset einbringen, quasi "auf der Sesselkante" spielend, mindestens so weit weg vom Verdi-Klischee wie das Singen von Veronique Gens, für die diese Musik gänzlich neu ist (und wahrscheinlich nie zu ihrem Bühnenrepertoire gehören wird). Trotz vieler anderer schöner, gelungener Vokalmusik-CDs: ganz sicher meine CD des Jahres 2011!
Service
"Tragédiennes 3: Les Héroines romantiques", Veronique Gens, Les Talens Lyriques, Christophe Rousset, Virgin Classics
Veronique Gens
Übersicht
- CD