Besuch in Derry/Londonderry
40 Jahre nach dem Bloody Sunday
Die Autoren Seamus Heaney und Brian Friel sowie der Musiker Phil Coulter wurden hier geboren, das älteste, unabhängige Warenhaus der Welt "Austin's" steht hier, Amelia Earhart, die erste Frau, die alleine den Atlantik überflog, landete im Mai 1932 ganz in der Nähe von Derry/Londonderry im Norden Irlands.
8. April 2017, 21:58
"Derry" bedeutet "Eichenhain des Hl. Columkill" und an dieser Stelle wurde schon vor 1.400 Jahren eine Stadt gegründet, die in der Folge auch 1.000 Jahre lang Derry genannt wurde. 1614 wurde sie nach mittelalterlichem Vorbild von einer Stadtmauer aus Granit umgeben. Die Mauer war etwa so hoch wie ein zweistöckiges Haus, hatte vier Stadttore und wurde durch einige Bastionen verstärkt.
Mit dieser Maßnahme sollte die sogenannte "Plantation" der Londoner Zünfte, welchen die Stadt zur Besiedelung übertragen worden war, vor irischen Zugriffen geschützt werden. Unter Jakob I. waren nämlich zahlreiche anglikanische Engländer und presbyterianischen Schotten in Derry angesiedelt und die Stadt direkt dem englischen London unterstellt worden.
Dominante Minderheit
Immer mehr Engländer zogen hierher, bald wurde der Name Derry in Londonderry umgewandelt: eine protestantische Minderheit dominierte die katholische Mehrheit. Damit war eigentlich der Grundstein für die Jahrhunderte langen Auseinandersetzungen zwischen Irland und England und für die "troubles" der jüngeren Zeit gelegt. Diese Troubles erreichten am 30. Jänner 1972, also vor 40 Jahren, mit den Bloody Sunday ihren traurigen Höhepunkt.
Martin McCrossan erzählt auf seinen Touren durch die Stadt, wie es dazu kam. Der rothaarige Mann ist nicht zufällig vor 18 Jahren schon, als sich noch kaum Touristen nach Nordirland wagten, Fremdenführer geworden. Er hat ein Faible für Geschichte, liebt die Menschen und seine Heimatstadt Derry. Außerdem führt er auf gewisse Weise die Tradition der irischen Geschichtenerzähler weiter. Diese Umstände haben dazu geführt, dass seine Stadttouren mehrfach ausgezeichnet wurden. Ihm kann man sich also getrost anvertrauen, möchte man die Stadt Derry/Londonderry kennen lernen.
Die Kunst des Geschichtenerzählens
In knapp einer Stunde kann man heute auf der mehrere Meter breiten Stadtmauer die City umrunden und hat dabei einen guten Blick auf den sogenannten "Diamant", das Kriegsdenkmal im Zentrum der Stadt, aber auch auf die umliegenden Viertel, die Bogside, den Fluss Foyle und auf die in jüngster Zeit entstandenen modernen Einkaufspaläste wie das Foyleside-, Quaiside- und Richmond-Shopping-Centre.
Der Stadtkern ist kompakt, alles ist schnell zu Fuß zu erreichen: das Towermuseum, in dem die Stadtgeschichte so dokumentiert wird, dass sie von beiden Seiten - Protestanten wie Katholiken - akzeptiert werden kann, der Veranstaltungsraum Millennium Forum, sowie das Backsteingebäude Verbal Arts Centre, in dem man heute noch die Kunst des Geschichtenerzählens vermittelt bekommt.
Auch das neue irische Kulturzentrum, eine moderne Glas-Stahl-Konstruktion inmitten alter Bausubstanz, in dem irischer Tanz und Gälisch gelehrt wird, liegt nicht weit vom Zentrum entfernt. In Derry/Londonderry ist eine heitere Gelassenheit eingekehrt, angesichts derer die Ereignisse der jüngeren Geschichte weiter weg zu liegen scheinen, als sie es tatsächlich sind.
Blutsonntag 30. Jänner 1972
Als sich Ende der 1960er Jahre, erzählt Martin McCrossan, eine Bürgerrechtsbewegung zu formieren begann, um auf die sozialen und politischen Ungerechtigkeiten hinzuweisen, wurden immer häufiger Verhaftungen vorgenommen. "Das Verbrechen dieser Menschen war, dass sie die irische Sprache, Musik und Kultur liebten", so Martin McCrossan. "Am 30. Jänner 1972 waren viele tausend Menschen auf die Straße gegangen, um für die Entlassung vieler unschuldiger Menschen aus den Gefängnissen und für Bürgerrechte zu demonstrieren. Die Demonstration sollte zum Rathaus führen, doch sie wurde an der nächsten Straßenecke gehindert weiterzugehen. Die Führer des Protestmarsches akzeptierten das, auch die meisten der Demonstranten. Eine kleine Sektion Bürgerrechtler akzeptierte das nicht und presste sich weiter in Richtung Armee. Das war an sich keine unübliche Situation, so liefen oft die Protestmärsche ab, es kam zu Ausschreitungen. Was ungewöhnlich war, waren die folgenden 20 Minuten: Da gab nämlich die britische Armee auf den Straßen dieser Stadt 108 scharfe Schüsse ab und 14 Menschen fanden den Tod. Sechs dieser Toten waren erst 17 Jahre alt - Bloody Sunday – Blut-Sonntag!"
14 unbewaffnete, unbescholtene Menschen starben, die meisten von ihnen wurden in den Rücken getroffen, niedergeschossen auf der Flucht. Die von London eingesetzte Untersuchungskommission kam jedoch zu dem Schluss, dass sich die britischen Soldaten richtig verhalten hätten. Martin McCrossan, der als Katholik mit einer Protestantin verheiratet ist, wirkt heute noch tief betroffen, wenn er vom 30. Jänner 1972, dem die irische Popgruppe U2 ein Lied gewidmet haben, spricht.
Im Stadtteil Bogside leben zu 100 Prozent Katholiken. Diese Gegend war als eine der am gefährlichsten Gegenden der Welt verschrien. An den Hauswänden sieht man die sogenannten "murals". Malereien, die bestimmte Ereignisse, die in der Bogside stattgefunden haben, dokumentieren. Ein die ganze Fassade einnehmendes Bild zeigt ein Mädchen in Schuluniform – "Death of Innocent/Tod einer Unschuldigen" heißt es und erinnert an die 14-jährige Annette McGavigan, die 1971 bei einem Schusswechsel zwischen der IRA und britischen Soldaten geraten war. Ein anderes grau in grau gehaltenes "Mural" zeigt den "Petrol Bomber", einen Buben mit Gasmaske und Molotow-Cocktail, ein weiteres "Bloody Sunday Commemoration" zeigt in Rot und Grün die Porträts aller 14 am Blutsonntag Ermordeten.
"Free Derry"
Bei einer Verkehrsinsel bleibt Martin McCrossan stehen und deutet auf den sogenannten Free Derry Corner. Mit schwarzer Schrift steht auf einer weißen Wand geschrieben: "You are now entering free Derry" - "Sie betreten das Freie Derry". Die Bewohner der Bogside hatten sich im Zuge der Auseinandersetzungen für unabhängig erklärt, die Straßen verbarrikadiert, und diese Zone wurde zu einer "No-Go-Area" für offizielle Sicherheitskräfte.40 Jahre danach haben der Künstler Jim Collins und Adrian Kerr, der das Museum of Free Derry leitet, diesem Mauerstück das Buch "Free Derry Wall" gewidmet.
Bei dem stets mit frischen Blumen geschmückten Denkmal, das für die Toten des Bloody Sunday errichtet wurde, verabschiedet sich Martin McCrossan. Von hier ist es nicht weit zum Museum of Free Derry im Glenfada Park an der Ecke Rossville-Street. Im Jahr 2005 war das rot gestrichene, barackenartige Gebäude, das auch von Picassos Guernica geziert wird, völlig heruntergekommen. An den Wänden waren noch Einschusslöcher von damals und Brandschäden zu sehen, die eisernen Türen waren verrosten und Mauerteile abgebröckelt.
Geleitet wird das Museum von Adrian Kerr. Der Historiker stammt aus Larne, nördlich von Belfast. Ihm war es ein persönliches Anliegen, am historischen Ort dieses Museum zu eröffnen: "Wir haben dieses Gebäude am Glenfada Park gewählt, weil es sich genau dort befindet, wo sich die Ereignisse des Bloody Sunday abspielten. Wir gehören zu einem Netzwerk von Museen mit ähnlicher Philosophie. Es ist ein Ort der Bewusstmachung, wir berichten am historischen Ort von dem, was passiert ist."
Rehabilitation für die Opfer
Der pensionierte Maschinenbauingenieur John Kelly ist seit der Eröffnung im Jänner 2007 beinahe täglich im Free Derry Museum anzutreffen. Bald ist es 40 Jahre her, dass sein kleiner Bruder ums Leben gekommen ist. Gemeinsam mit den Angehörigen der anderen Opfer hat John Kelly jahrelang darum gekämpft, dass die Vorfälle des Jahres 1972 neuerlich untersucht werden. Im Jahr 1992 riefen die Familien eine Kampagne ins Leben, um ihre Toten vom Bloody Sunday zu rehabilitieren. Denn bis dahin waren die Vorwürfe noch immer nicht ausgeräumt worden, die Demonstranten hätten den Gewaltakt der britischen Soldaten provoziert.
Endlich, im Jahr 1998 - im Zuge des "Peace and Reconciliation"-Prozesses - leitete Tony Blair eine neue Untersuchung ein, die sieben Jahre dauerte und im Zuge derer sich Aktenmaterial von über tausend Seiten ansammelte. Eine Kopie davon liegt im Museum of Free Derry auf. Und dieser neue Bericht der Untersuchungskommission unter Richter Lord Mark Saville brachte endlich die lang ersehnte Rehabilitation: Alle Ermordeten wurden als unschuldig anerkannt.
Im Sommer 2010, wieder fünf Jahre später, setzte die britische Regierung einen weiteren Schritt in Richtung Versöhnung: "David Cameron, der konservative Premierminister wohlgemerkt, hat am 15. Juni 2010 zugegeben, dass die Tötungen völlig ungerechtfertigt waren und nicht zu rechtfertigen sind. Er hat sich dafür entschuldigt, was die britische Armee im Jänner 1972 am Bloody Sunday angerichtet hat. Also wir haben eine Entschuldigung vom britischen Premierminister und die Anerkennung der Wahrheit erwirkt. Das war ein wirklich starker Moment. Aber es hat 38 und ein halbes Jahre gebraucht."
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