Musikerbiographien zwischen Fiktion und Realität

Das Leben erfinden

Die Leser zu Schreibenden machen – Irene Suchy über das Spannungsfeld der Musikerbiografie zwischen Fiktion und Realität, zwischen Vollkommenheit und Mut zur Lücke, zwischen Popularität und Verachtung. Musikerbiografien.

Viele schnell geschriebene und leicht lesbare über Rattle, Mehta und Holender, wenige profunde wie jene Doppelbiografie über Amalie und Joseph Joachim, der Beatrix Biorchard den Titel "Stimme und Geige" gegeben hat. Selten korrespondiert der wissenschaftliche Anspruch mit der Auflagenzahl. Die Musikwissenschaft tut sich schwer: mit dem Anwenden neuester methodischer Zugänge zur Biografie einerseits, mit der Popularität andererseits.

Susanne Kogler, Musikwissenschafterin und Archivarin an der Kunstuni Graz, erkennt die Biografieforschung als Brennspiegel der Musikwissenschaft: "Ich denke, dass dieses Spannungsfeld von Fiktion und Realität mit allem was der Fall ist - auch als persönliche Imagination – dass dieses Spannungsfeld für die gesamte Methodendiskussion in der Musikwissenschaft spannend ist."

Das Bild im Kopf

Die Biografieforschung hat einen geringen Stellenwert in der Musikwissenschaft. Sie erliegt, stellen Manfred Wagner und Susanne Kogler im Interview fest, einem Vourteil, an wissenschaftliche Ansprüche nicht heranreichen zu können. Kogler stellt als einen der Fallstricke in der Biografieforschung das Bild im Kopf fest: Das Werk müsse kohärent sein, das Bild im Kopf duldet nicht das sogenannte schlechte Stück im Oeuvre des Genies, es duldet nicht das herausragende Werk im Oeuvre des oder der noname. Wie lange ist gesagt worden, dass Alma Mahlers Lieder von ihrem Lehrer Zemlinsky verfasst worden seien, weil man ihr diese Lieder nicht zutraute, weil sie nicht in das Bild, das wir von ihr haben, passen.

"Das Bild des Meisterwerks lässt alle anderen Stücke außerhalb des Blickwinkels treten", sagt Susanne Kogler über das unsägliche, den Blick auf Fakten verstellende Bild des Meisterwerks. Es geht aber darum, Wirkungs- und Aufführungszusammenhänge im Werk festzustellen, die das aus dem Rahmen fallende Werk zur Lebensgeschichte zuordnen lassen.

Die Biografie erlaubt sich damit Montage zu sein, möglichst viele verschiedene Quellen unkommentiert und auch widersprüchlich stehen zu lassen. Uns Leserinnen und Lesern bleibt nicht erspart, das Spannungsfeld zu ertragen, den Weg zum Wissen nachvollziehen zu müssen, die Idee der Vollkommenheit und Geradlinigkeit aufzugeben. Neue Methoden der Forschung wissen, dass die Biografie Fragment ist, auch in einem vollkommen bewahrten Archiv fehlt mehr als zu sehen ist: der Kontext, der Zusammenhang, den die Komponistin oder der Komponist hergestellt hat.

Zum Mitschreibenden werden, die Lücken deklarieren, die Zusammenhänge in ihrer Fragwürdigkeit stehen lassen: Susanne Kogler hat an der KUG, der Grazer Kunstuni, 2011 ein Symposium über "Gender, Autor und Schöpferkraft" geleitet, in dem die Biografieforschung zentral zur Sprache kam.

Die künstlerische Biografie

Melanie Unseld, Professorin für Kulutrgeschichte der Musik in Oldenburg mit dem Forschungsgebiet Biografie und Musikgeschichte, verweist auf die künstlerische Biografie: "In Werken der neuen Musik gibt es künstlerische Zugänge mit höherem Innovationspotential – Biografiekonzepte in vertonter Form sind avancierter als so manche geschriebene Biografie.

Da ist die Oper "Giuseppe e Sylvia" von Adriana Hölszky - eine Oper über die fiktive Begegnung zwischen dem Komponisten Giuseppe Verdi und der Dichterin Sylvia Plath. In der Oper nach einem Libretto von Hans Neuenfels verspricht sich ein Filmteam von der Zusammenführung der beiden Figuren nicht die Erforschung biografischer Neuentdeckungen, sondern die "Rettung der Toten". Jene, über deren Weiterleben verfügt wird, sollen endlich selbst die Möglichkeit haben, in einer neu zu entdeckenden Freiheit sie selbst zu sein, ihr Bild in der Biografieschreibung zu revidieren.

Verdi, der große Komponist, der sein Leben vor den Menschen verbarg, der versuchte, alle privaten Details, die an die Öffentlichkeit gelangen könnten, zu beherrschen oder zu vernichten, über sein Gefühlsleben einen Schleier breitete und der nach seinem Tod der Welt seine Werke als einziges Vermächtnis hinterlassen wollte. Sylvia Plath, lebenslang von Zweifeln und Selbstvorwürfen geplagt, deren Innenleben sich scheinbar vollkommen in ihren erbarmungslosen Notizen zu spiegeln schien, die nach ihrem Freitod zum großen Teil von ihrem Mann Ted Hughes vernichtet wurden. Die beiden sind verabredet, um miteinander zu sprechen, nicht im Reich des Todes, sondern konkret, im Leben. Sie reisen zueinander, um den Raum ihrer Biografien weiter hinter sich zu lassen.

Die künstlerische Biografie, erkennt Melanie Unseld, entspricht in vielerlei Weise den Forschungsmethoden modernen Biografieforschung: Weil sie zum Beispiel die Fragmentarisierung der Identität des Individuums und den Zwang des biografischen Modells vor Augen führt. Hölszkys und Hans Neuenfels' Oper führt uns vor Augen, was wir Hörenden tun, wenn wir rezipieren: was passiert mit uns als Publikum?

Tabuzone Biografie

Damit berührt die künstlerische Biografie selten gestellte, in Tabuzonen vorstoßende Fragen: In welchem Verhältnis steht die Biografin zum Biografierten, deklariert sie oder er ihr Verhältnis, sollen wir uns identifizieren als Publikum mit der Person, über die wir lesen oder hören? In welcher Epoche ist die Biografie geschrieben worden, welchen idelogischen Hintergrund hatte der Autor, welche Stellung in der Gesellschaft? Aber noch ehe wesentliche Fragen an die Biografie gestellt wurden, wurde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet; die Biografie verteufelt. Biografen sind bis heute wenig bedankte Zutragende und Quellenforscher der Musikwissenschaft.

Melanie Unseld meint dazu: "Es gibt eine ganz große Ablehnung des Biografischen in der Musikwissenschaft, kulminierend in der Polemik von Carl Dahlhaus – Wozu Biografik? Wie kommt es dazu? Wie kommt Musikbiografik und Musikgeschichte zusammen?"

Im späten 17. und 18. Jahrhundert war die Biografik zentral, über die Biografie entstand Musikgeschichte. Um 1800 beginnt eine starke Idealisierung, eine immer stärkere Heroisierung und Monumentalisierung einzelner – und zugleich eine massive Abwertung dieser Forschung.
Guido Adler – ein großer Name der Wiener Musikwissenschaft, eine Schlüsselfigur für die Biografieforschung in der Musik – steht an dieser Wende: Zu einer Zeit, da die Musikwissenschaft endlich als Universitätsfach begründet wird, wird ein Teil ihrer Arbeit, ihres Faches abgewertet, ja verachtet. Ein Teufelskreis, dargelegt von Melanie Unseld: "Musikgeschichte macht die Biografie populär und die Musikwissenschaft wendet sich dafür von der Biografik ab."

Nachsatz: Musik hören als Ziel der Biografie

Manfred Wagner, Kulturwissenschaftler an der Universität für Angewandte Kunst, gibt seit einigen Jahren eine Buchreihe von Musikerbiografien heraus, in der Edition Steinbauer. "Ich will den bisschen überdurchschnittlichen Zeitungsleser erreichen, ich wollte ihm oder ihr ein Bildungsmaterial in die Hand geben, auf dem neuesten Stand der Forschung die Zusammenhänge verstehen, dass Musikgeschichte keine Geheimsprache oder Herrschaftssprache ist. Das ist meine Zielvorstellung: wenn ich das Buch gelesen habe, dann muss ich zwangsläufig CDs einkaufen gehen, dann möchte ich die Lücke meines Wissens füllen."