Kompositionen von Lagerinsassen

Vergessene Musik

Eine in Italien herausgekommene, einzigartige Enzyklopädie bestehend aus 24 CDs, versammelt Lagermusik von Juden, Sinti, Roma und Antifaschisten.

Kulturjournal, 06.02.2012

Ein Wiegenlied. Das Lied handelt vom Paradies, wo das Kind spielen und glücklich sein darf, wo kein Herz jemals allein ist. Das Lied komponierte Eva Lippold-Brockdorff. Die 1909 in Magdeburg geborene deutsche Widerstandskämpferin und Schriftstellerin kam mit dem Schrecken davon.

Als politische Aktivistin wurde sie 1934 von den Nazis verhaftet und fristete bis Kriegsende ihr Dasein in verschiedenen Haftanstalten. Während dieser Zeit begann sie zu dichten und fand Melodien für ihre Texte. Eva Lippold überlebte die Nazizeit. Und mit ihr ihre Musik.

22 Jahre zusammengesucht

Die Lieder von Eva Lippold sind jetzt wieder zu hören. Auf einer von 24 CDs, die am Montag, 6. Februar 2012, in Rom vorgestellt werden. Es handelt sich um die erste Enzyklopädie zur Lagermusik. Herausgegeben von dem süditalienischen Musikwissenschaftler Francesco Lotoro. Das von ihm gegründete Institut für jüdische Musik suchte 22 Jahre lang Musik aus Lagern zusammen. Zehn Jahre dauerte die Einspielung von Hunderten von Musikstücken und Liedern.

"Das Institut für jüdische Musik ist eine kleine Einrichtung", so Lotoro. "Von mir und meiner Frau und Kollegen gegründet. Wir erforschen die Musik, die zwischen 1933 und 45 in Lagern komponiert wurde. Uns ging und geht es aber nicht nur um jüdische Musik."

Mit Spendengeldern finanziert

Francesco Lotoro und seine Mitarbeiter suchten in ganz Europa, den USA, in Israel, Russland und Asien verschollene Musik. Komponiert von den Insassen von Konzentrations- und Vernichtungs-, von Arbeits- und Militärlagern. Die Produktion rein jüdischer Musik in NS-Vernichtungslagern nimmt heute nur noch einen Teil des immensen musikalischen Archivs ein. Viele Kompositionen stammen von Sinti und Roma, von gefangenen Amerikanern und Russen, Juden, Antifaschisten und anderen Internierten.

Lotoro finanzierte sein Projekt allein und mit Spendengeldern. Vom Staat oder den Regionen gab es nicht einen einzigen Cent.

Die meisten der in der CD-Enzyklopädie aufgeführten Komponisten sind heute fast gänzlich vergessen: wie der deutsche Kabarettist Willy Rosen, wie der tschechische Musiker Pavel Haas, wie der französische Komponist Emile Goué und zahllose andere, die in Lagern starben und deren musikalische Hinterlassenschaft in den meisten Fällen nie aufgearbeitet wurde. Es ist Francesco Lotoros großes Verdienst, die vergessene Musik der Opfer von Diktaturen wieder hörbar gemacht und damit die Autoren dieser Musik dem Vergessen entrissen zu haben.