Roman von Judith Schalansky
Der Hals der Giraffe
"Ich fand es interessant, dass die Biologie als eine Naturwissenschaft gilt, die abstrakt und dennoch lebensnah ist, eine echte Naturwissenschaft, und ich fand es interessant, diese Naturwissenschaft zu untersuchen auf ideologische Anteile, (...) es war so ein Forschungsprojekt von mir", erklärt Judith Schalansky ihren Roman.
8. April 2017, 21:58
Um die Biologie dreht sich alles für die Lehrerin Inge Lohmark, die Hauptfigur in Judith Schalanskys Roman "Der Hals der Giraffe". Inge Lohmark ist eine schwierige Persönlichkeit, streng, unduldsam und konservativ, die das gesamte Leben durch die darwinistische Brille sieht und ihren Schülern nichts durchgehen lässt.
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Wichtig war, den Schülern die Richtung vorzugeben, ihnen Scheuklappen anzulegen, um ihre Konzentrationsfähigkeit zu fördern. Und wenn wirklich mal Unruhe herrschte, brauchte man nur mit den Fingernägeln über die Tafel zu kratzen oder vom Hundebandwurm zu erzählen. Für die Schüler war es ohnehin das Beste, sie in jedem Moment spüren zu lassen, dass sie ihr ausgeliefert waren. Anstatt ihnen vorzugaukeln, sie hätten irgendetwas zu sagen. Bei ihr gab es kein Mitspracherecht und keine Wahlmöglichkeit. Niemand hatte eine Wahl. Es gab die Zuchtwahl und sonst nichts.
Die Absurdität des Verfalls
Eine höchst unsympathische Figur, möchte man meinen, aber für Judith Schalansky hat Inge Lohmark auch eine andere, liebenswertere Seite: "Es gibt ja zum Beispiel eine große Liebe für ihr Fach, so seltsam sie ihr Fach auch versteht, aber es gibt da durchaus Momente, in denen sie ins Schwärmen gerät, wenn es zum Beispiel um die Haeckel'schen Quallen geht. Die ist irgendwie auch schon wieder originell, weil sie eben die Dinge dann nochmal eine Schraube weiterdreht."
Seit mehr als 30 Jahren unterrichtet Inge Lohmark Biologie an einer Schule im vorpommerschen Hinterland. Diese Schule allerdings soll in einigen Jahren geschlossen werden, denn seit der Wende schrumpft die Bevölkerung rapide. Und auch sonst läuft in Inge Lohmarks Leben nicht alles nach Wunsch. Ihre Tochter ist in die USA gegangen und zeigt keinerlei Neigung, Kinder zu bekommen, ihr Mann, der zu DDR-Zeiten Kühe besamt hat, züchtet nun Strauße. Ein ziemlich tristes Umfeld, das Judith Schalansky aber nicht gar zu trist darstellen wollte:
"Ich wollte nicht eine traurige Schilderung dieses Verfalls schaffen, sondern auch das Absurde deutlich machen. Deswegen ist dieser Mann mit seiner Straußenzucht ganz wichtig, weil die Strauße bedeuten natürlich den Neuanfang, so merkwürdig es auch ist, dass da Tiere aus Afrika importiert werden, die dann in der Vorpommern'schen Steppe leben. Das ist natürlich absurd."
Drei Tage, drei Lehren
Als "Bildungsroman" bezeichnet der Verlag das Buch, und dieses altmodisch klingende Attribut trifft durchaus zu. Denn neben der recht verhaltenen Handlung werden dem Leser immer wieder biologische Fakten vermittelt.
"Deswegen haben wir im Buch eben auch drei Kapitel, die jeweils einen Tag im Leben dieser Lehrerin erzählen", so Schalansky, "aber auch jeweils einen ganz verschiedenen Lehrstoff beinhalten. (...) Ich beginne also mit den Naturhaushalten, also dass auch die Natur einen Haushalt hat, der verwaltet werden muss, was eben auch so eine bürokratische Idee ist, dann haben wir ein zweites Kapitel, das sind die Vererbungsvorgänge, und das letzte Kapitel behandelt eben das Große, nämlich die Evolution; bei mir heißt das die Entwicklungslehre."
Hinter all dem steht die Geschichte selbst ein wenig zurück. Inge Lohmark beobachtet, bewertet und beurteilt und legt dabei ihre darwinistischen Maßstäbe an, die oft im Gegensatz zu ihrer DDR-Sozialisierung stehen. Sie trauert der alten Zeit auf eine gewisse Weise nach, vertritt aber gleichzeitig Ansichten, die mit der DDR-Ideologie kaum vereinbar sind. "Wwas sie für eine Weltsicht hat, ist eigentlich hochliberal - wir dürfen die Schwachen nicht mitschleifen, das ist nun eben nicht DDR. Also insofern geht es auch nicht auf, ihr ganzes Weltbild. Das hat mich sehr interessiert, eine Figur zu entwerfen, die die ganze Zeit überlegt, wie man alles passend machen kann und das aus ihrer biologistischen Warte."
Angedeutete Gefühle
Als Inge Lohmark plötzlich eine ganz ungewohnte Zuneigung zu einer Schülerin empfindet, gerät ihr Lebenskonstrukt weiter ins Wanken. Allerdings bleibt Schalansky zurückhaltend, die Gefühle der alternden Lehrerin werden angedeutet, aber nicht ausgesprochen und die Begegnungen außerhalb des Klassenzimmers gehen über eine gemeinsame Autofahrt nicht hinaus: "Das ist eine Art Obsession, eine Art Irritation, und in dieser merkwürdigen Figur Inge Lohmark gibt es halt ein Gefühl, das sie nicht einordnen kann, und gleichzeitig eben das Gefühl, gemeint zu werden von jemandem."
Bis zum Schluss hält sich Judith Schalanskys Roman in dieser vagen Möglichkeitsform. Es passiert nicht viel, wichtiger als große Ereignisse sind der Autorin die Innenansichten ihrer Protagonistin und all das entfaltet eine Art spröden Charme. Auch das Ende lässt Schalansky ganz bewusst offen – schließlich hat sie selbst auch keine rechte Vorstellung davon, wie es mit Inge Lohmark nun weitergehen soll: "Geschichten sind für meine Begriffe nie zu Ende, weil das Leben geht ja immer weiter und das Merkwürdige ist, selbst wenn irgendwas gerade gelöst scheint, kommt dann das nächste Problem."
Service
Judith Schalansky, "Der Hals der Giraffe", Suhrkamp Verlag
Suhrkamp - Der Hals der Giraffe