Neues Leben in alten Häusern

Die Medina von Tunis

Ein touristischer Pflichtpunkt auch bei einem kurzen Tunis-Aufenthalt ist die historische Altstadt oder Medina, nach dem arabischen Wort für Stadt. Seit 1979 steht sie auf der Weltkulturerbe-Liste der UNESCO.

Ähnlich wie in Venedig beschränken sich auch in der Medina von Tunis die Touristenfallen auf ein paar Routen durch die Altstadt. Wenige Schritte weiter decken Einheimische ihren Bedarf an Kleidung und Bettwäsche, Reisetaschen, Lebensmittel, Uhren und Radios, halb so teuer wie in den Geschäften der neuen Stadt. Ebenfalls wie Venedig ist die Medina bis auf Lieferwagen autofrei.

Zweieinhalb Quadratkilometer, genau 270 Hektar, damit ist die Medina von Tunis die zweitgrößte im Maghreb, nach dem marokkanischen Fez. In der Altstadt wohnen heute rund 110.000 Einwohner, sie umfasst Baudenkmäler aus tausend Jahren: Moscheen, Palais, mehr als dreißig Madrasas - geistliche Schulen. Interessant sind aber nicht nur einzelne Gebäude, sondern die städtebauliche Anlage der Altstadt.

Die Urbanistin Jamila Binous sagt: "Von der Großen Moschee führen große Wege zu den Stadttoren, wie Arterien vom Herzen. Das öffentliche Leben spielt sich entlang dieser Routen ab. (...) In die Sackgassen kommen nur die Anrainer, die Familien leben dort völlig geschützt vor allen Störungen, vor dem Lärm, den Blicken der Stadt."

Medina in Gefahr

In dem autobiografischen Jugendroman "Die Salzsäule" schildert der tunesisch-französische Schriftsteller Albert Memmi das Leben seiner jüdisch-arabischen Familie in der Medina der 1920er Jahre.

"Man hatte schlecht verstanden, wie die Medina funktionierte", so Binous. "Man meinte, zu modernisieren und Gutes zu tun, wenn man sie abriss und stattdessen neue Siedlungen anlegte, wo auf breiten Straßen das Auto Einzug hielt. All das hat bewirkt, dass die Bewohner abzuwandern begannen, weil sie Angst vor den Baggern hatten."

Renoviert wird mit allem, was man kriegt

Besuch in einem Haus in der Altstadt: Eine Art Gewölbe rund um ein Atrium. Vier Säulen tragen die Decke, von oben fällt Licht herein. Die rechte Seite nimmt eine Küche ein, zum Raum hin offen. Ein gewaltiger Kühlschrank, ein Tisch, eine Sitzgruppe. Seit elf Jahren bewohnt Familie Ben Milad das Haus in der Altstadt. Schon seit 15 Jahren renovieren sie es. So günstig wie möglich, anders könnten sie es sich nicht leisten. Sie, Myriam, ist Chemikerin, er, Slimane, Mathematiker.

Die Treppe zum Obergeschoß besteht aus Eisenbahnschienen - man nimmt, was man kriegt. Auch so hat der Umbau genug gekostet: bis jetzt 150.000 Dinar, etwa 80.000 Euro, in Tunesien keine Kleinigkeit. Ein Hauptproblem: die Feuchtigkeit, die in den Mauern aufsteigt.

Auch der Kauf war nicht leicht: Verhandlungen mit gezählten 45 Erben waren notwendig. Dafür verfügt das Ehepaar mit zwei Kindern jetzt über zwei Etagen zu je 150 Quadratmetern, dazu noch Zimmer auf dem Dach, 350 Quadratmeter insgesamt, in bester Lage, mitten im Zentrum. Ein Haus mit römischen Säulen und meterdicken Mauern, ein unschätzbarer Segen im sengend heißen Sommer, wie auch der Patio.

Altstadt bleibt in tunesischer Hand

Zunehmend wird die hohe Lebensqualität in der Altstadt wiederentdeckt. Die Trendwende begann, in Tunis nicht anders als in Europa, in den 1970er Jahren, der Schutz der Altstadt durch die UNESCO trug zur lokalen Wertschätzung bei, aber dass Familien wie die ben Milads, gut ausgebildet, aber nicht reich, hier Häuser renovieren können, das verdankt sich einer einzigartigen Institution: der ASM - Association de Sauvegarde de la Medina, gegründet schon 1967. Dieser Verein zum Schutz der Medina ist Interessensvertretung, Forschungsagentur, Architekturbüro. Hier werden Handwerker ausgebildet und günstig verzinste Darlehen zur Gebäudesanierung vergeben.

Im höher gelegenen Teil der Medina hat der Verein historisch akkurate Vorzeige-Renovierungen durchgeführt, einige Straßen rund um die Rue Sidi ben Arous, Restaurants, Kunstgalerien, kleine Cafés sind eingezogen. Einigen tausend Familien hat man dagegen geholfen, aus der Medina auszuziehen, in Eigentumshäuser in anderen Vierteln. Beihilfe zur Gentrifizierung? Die Frage macht den Architekten und stellvertretenden Direktor des Vereins Zoubeir Mouhli fast ärgerlich:

"Es geht nicht um eine Bevölkerungsumsiedlung. Es geht um Menschen, die nicht ursprünglich in der Medina gelebt haben. Sie sind ab den 1960er Jahren vom Land nach Tunis gezogen. Die ländlichen Regionen waren durch die Kolonialisierung verarmt, es gab Epidemien und Missernten. Diese Leute waren arm, sie konnten die Häuser nicht instand halten, es gab Probleme mit Kriminalität, mit sexuellen Belästigungen. Die Häuser wurden zimmerweise vermietet, mehre Familien teilten sich eine Küche, die Wasserstelle. Man hat auch Lagerräume als Wohnräume vermietet, es herrschten unmenschliche Bedingungen. Die Leute sind also von selbst weggezogen, sobald sich ihre finanzielle Situation verbessert hat."

Bei der Sanierung der Medina, sagt Zoubeir Mouhli, steht der Mensch im Mittelpunkt, nicht der Stein. Anders als etwa in Marokko will man in Tunesien die Altstädte in einheimischer Hand lassen, will den Ausverkauf an Ausländer verhindern. Vielleicht verlangsamt das die Renovierungen, große Teile der Altstadt warten noch darauf.

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Tunesien - Touristeninfo