Die alte Medina in Marrakesch
Dar Bellarj, das Storchenhaus
Nahe der 400 Jahre alten Koranschule Medersa Ben Youssef in der alten Medina liegt das Haus der Störche. Wo früher diese Vögel auf ihrem Weg in den Norden Halt machten, dort findet man heute die Stiftung Dar Bellarj.
27. April 2017, 15:40
Der Djemaa El Fna, der berühmte mittelalterliche Marktplatz im Zentrum von Marrakesch, gehört zu den Wahrzeichen dieser Stadt. Jeden Abend gehen auf diesem weitläufigen Gelände unzählige Schlangenbeschwörer, Gaukler und Musiker ihrer Arbeit nach. Weniger spektakulär in seiner Anmutung, aber für die marokkanische Geschichte nicht minder bedeutsam ist das Storchenhaus - Dar Bellarj. Es liegt inmitten der alten Medina und bildet die Basis einer Stiftung, die sich der lebendigen und gelebten marokkanischen Kultur verschrieben hat.
Die Schweizer Innenarchitektin Susanna Biedermann und ihr Lebensgefährten Max Alioth haben mit dem Kauf des Storchenhauses den Grundstein für die Dar Bellarj Stiftung gelegt. Anhand von Gemälden, Skulpturen und Kulturveranstaltungen sollen Kunsthandwerk, Bräuche und Traditionen für interessierte Besucher ebenso wie für die Bewohner der Medina von Marrakesch neu erlebbar gemacht werden. Die Stiftung stellt ihre Räumlichkeiten aber auch für Ausstellungen, Konzerte und Symposien bereit.
Neuer Glanz für altes Haus
Dar Bellarj liegt in der Nähe der Medersa Ali Ben Youssef, der architektonisch prächtigen Koranschule aus dem 14. Jahrhundert. Hinter einem massiven Holztor befindet sich der helle Innenhof dieses über 130 Jahre alten Gebäudes. Die überdachten Gängen - Lauben gleich - bilden ein Rechteck. Sitzmöbel in loser Anordnung bieten die Möglichkeit zu einer kontemplativen Ruhepause - nach einer Tour durch die Medina ein willkommenes Angebot. An kunstvoll dekorierten Torbögen vorbei gelangt man in die Ausstellungs- und Seminarräume.
"Die Innenarchitektin Susanna Biedermann und der Architekt Max Allioth sind nach Marrakesch gekommen, haben sich in das Land, in diese Stadt, verliebt und beschlossen, etwas für die Bevölkerung zu machen", erzählt Maha el-Madi, die Direktorin der Dar-Bellarj-Stiftung. 1998 kauften die Schweizer das Gebäude in der Medina und veranlassten dessen Restaurierung, die ganz im Sinne der traditionellen marokkanischen Handwerkskunst von statten ging. Detailgetreu und kompromisslos in der Ausführung wurde der verblichenen Schönheit des Storchenhauses zu neuem Glanz verholfen.
Das Vogel-Spital
Die Geschichte dieses Bauwerkes reicht allerdings deutlich weiter zurück als in das späte 19. Jahrhundert. Ursprünglich begann alles mit einer Herberge für die Karawanen, die in Marrakesch Station machten.
"In diesem Fondouk, der Karawanserei, waren hauptsächlich Handwerker untergebracht", erzählt Maha el-Madi. "Einige von ihnen waren sehr geschickt im Umgang mit Vögeln. Ein Mann hatte eine besonders gute Hand für Störche - waren sie krank, pflegte er sie gesund. Dieser Storchenspezialist erlangte schnell Berühmtheit und so nannte man das Gebäude nach ihm das Storchenhaus. Es war, wie ein Orientierungspunkt in der Medina." Bis heute, so sagt es die regionale Legende, kommen kranke Störche auf ihrem letzten Flug zum Haus der Stiftung.
Die Karawansereien von früher
Die Stadt Marrakesch war im Laufe ihrer Geschichte sehr stark vom Durchzug der Karawanen geprägt, erzählt Maha el-Madi, während sie den Gang des Innenhofes entlang spaziert. Es waren vor allem Reisende aus dem Süden Afrikas, die auf ihrem Weg zum Mittelmeer in der Karawanenstadt eine Rast einlegten. Man konnte in den Unterkünften seine Güter abladen und nach einer Ruhepause die nicht ganz unbeschwerliche Reise wieder aufnehmen. Die Karawansereien waren, wenn man so will, die Hotels der frühen Epochen, so die Direktorin. Vermutlich nicht ganz so bequem und elegant, wie man das heute erwarten würde, aber diese Unterkünften strahlten eine ganz spezielle Schönheit aus.
"Für mich ist vor allem die Architektur ein Symbol dieser Schönheit. Sie steht ganz im Einklang mit der Lebensweise der Menschen", so Maha el-Madi. Und diese Wahrhaftigkeit der Architektur war es auch, die Susanna Biedermann und Max Alioth sofort in ihren Bann gezogen hat. Die Schweizerin fand im Storchenhaus ein Lebensprojekt. 2007 ist Susanna Biedermann im Alter von 64 Jahren gestorben. Auch Max Alioth folgte ihr bald darauf.
Der Medina von Marrakesch schenkten sie ein Stück Kultur, einen Ort der Begegnung - oder, wenn man es in der Symbolik des Hauses ausdrücken möchte: ein großes Storchennest.
Stätte der Begegnung
Das Haus der Stiftung Dar Bellarj gilt mittlerweile als Stätte der Begegnung, aber auch der Wiederbegegnung mit der Kultur des Landes. Einerseits möchte man die Gäste der einstigen Karawanenstadt dazu einladen, die Vielfalt und die komplexe Schönheit der marokkanischen Kunst und ihrer Traditionen in einem eigens dafür geschaffenem Ambiente auf sich wirken zu lassen, auf der anderen Seite geht es aber auch darum, der Bevölkerung der Medina, den Bewohnerinnen und Bewohnern von Marrakesch ihre eigenen Kultur wieder näher zu bringen.
Im Rahmen von Ausstellungen über traditionelle Handwerkskünste, von Werkstattgesprächen, Theateraufführungen und Tanzperformances soll vergessen geglaubte Alltagskultur zu neuer Aufmerksamkeit verholfen werden. Zielpublikum für derlei Veranstaltungen waren anfangs die Kinder und dann auch ihre Mütter.
"Seit mehr als drei Jahren haben wir bei uns ein Atelier für - wie ich es gerne nenne - begabte Mütter eingerichtet. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass man die Kinder unserer modernen Zeit durchaus für die Kulturgeschichte unseres Landes interessieren kann, wenn man ihnen die Themen auf verständliche Weise näher bringt. Nachhaltigen Erfolg können wir damit aber nur erzielen, wenn die Kinder auch zu Hause Ansprechpersonen haben, die unsere Kunst und deren Ausdrucksformen kennt und respektiert. Also wandten wir uns an die Mütter", sagt Maha el-Madi.
Ausstellungen und Konzerte für alle
Aber nicht nur die Bewohner der Medina sollen künftig in den Genuss kommen, unentgeltlich an den Aktivitäten der Storchenstiftung teilhaben zu können. "Wir haben ein Programm, das nennt sich die 'Karawane des Storchenhauses'. Auf diese Weise kommen wir jenen Menschen entgegen, die kein Geld haben, um mit dem Taxi zu uns in die Medina von Marrakech zu kommen", erzählt Maha el-Madi. "Mindestens einmal pro Monat sind wir mit unseren Kulturaktionen in den Außenbezirken der Stadt unterwegs."
Um für die Umsetzung aller Vorhaben so gut wie möglich gerüstet zu sein, wächst die Stiftung mit ihren Aufgaben, meint die Direktorin. Einmal pro Jahr widmet man sich im Rahmen einer Ausstellung einem großen Thema, das im weitesten Sinne mit Marokko zu tun hat. "Die Kunst des Lebens" zum Beispiel war eine Dokumentation zur Geschichte des Kaftans. Eine weitere Ausstellung galt der Kraft der marokkanischen Düfte. Dabei ging es um das Parfum und seine Bedeutung in der marokkanischen Kultur.
Die Frauen aus Marokko verwendeten Parfum schon lange bevor es Chanel, Givenchy, Dior oder Kenzo gab, meint Maha el-Madi. In Marokko war man immer von Düften umgeben - eine Tatsache, die im Rahmen einer Ausstellung auf unterschiedlichste Art und Weise dargestellt worden ist.
"Für mich bestimmt den Geruch von Marokko die Orangenblüte. Bei uns gibt es sehr viele Zitronen- wie Orangenbäume und im Frühling legt sich ihr Duft über ganz Marokko", erzählt die Direktorin von Dar Bellarj. Bei Familienfesten und Hochzeiten existiert auch noch der Brauch, dass man die Menschen mit Rosenwasser übergießt. All diese kleinen wissenswerten Details soll die Ausstellung im Storchenhaus mitliefern. Im Selbstverständnis der handelnden Personen ist das Haus in der Medina ein Ort, an dem sich alle Kulturen kreuzen. Jeder soll und kann seine Spuren, seine kulturelle Präsenz hinterlassen. Dafür stehen die Ausstellungsräume ebenso zur Verfügung wie die Zimmer, die Arbeitskreise und Workshops beherbergen. Und als einziges Haus in Marrakesch verfügt Dar Bellarj sogar über ein kleines Kellergewölbe. Dort finden regelmäßig Konzerte statt.
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