Bericht einer Reise in die Vergangenheit

Dokumentation "Six Million and One"

Die Schrecken des Holocaust sind Thema zahlreicher Dokumentationen. Kaum jedoch wurde bisher der Frage nachgegangen, wie sich die Traumata der Holocaust-Überlebenden auf die Nachfolgegeneration ausgewirkt haben.

Der israelische Filmemacher David Fisher hat sich mit seinen Geschwistern auf eine aufwühlende Reise begeben. Gemeinsam haben sie das oberösterreichische Gusen besucht, wo ihr Vater während der NS-Zeit im Konzentrationslager schwere Zwangsarbeit verrichten musste. Fishers Dokumentation "Six Million and One", die am Freitag, 11. Mai 2012, in den heimischen Kinos anläuft, ist der in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche Bericht dieser Reise.

Mittagsjournal, 07.05.2012

Den Anstoß zu diesem Filmprojekt machte ein bedeutsamer Fund. Nach dem Tod seines Vaters entdeckte David Fisher nämlich dessen Aufzeichnungen über seine Zeit im Konzentrationslager. Nachdem er den Bericht mehrmals gelesen hatte, beschloss er, die Orte aufzusuchen, die sein Vater darin beschrieben hatte. Darunter den Granitsteinbruch des Lagers Gusen 1.

"Meine erste Reise nach Österreich habe ich noch alleine unternommen", erzählt David Fisher. "Es war für mich, wie in einen Löwenkäfig zu steigen. Natürlich ist der Zweite Weltkrieg lange vorbei und es lebt jetzt eine andere Generation hier, aber Österreich war trotzdem ein Ort, an den ich niemals kommen wollte und mit Österreichern wollte ich auch nie etwas zu tun haben. Als ich dann erfahren habe, dass ich in den Tunneln von Gusen drehen durfte, wusste ich, dass ich dieses Mal nicht ohne meine Geschwister fahren würde."

In den Tunneln des Lagers Gusen

Zu viert sind sie unterwegs, eine Schwester und zwei Brüder begleiten Fisher, alle sind sie rund um die 50 und höchst unterschiedliche Charaktere. Die Kamera ist immer mit dabei und zeichnet die entwaffnend offenen Gespräche auf. Es wird gestritten und geweint und dann wieder versucht, den Schrecken der Vergangenheit mit tiefschwarzem Humor beizukommen.

In einer Szene sitzen die Geschwister im Stollen von Gusen, den ihr Vater als Zwangsarbeiter mitgegraben hatte. "Das solltest du dir patentieren lassen", meint da ein Bruder plötzlich. "Wir bringen die Leute in den Stollen und reißen ihre Seelen heraus. Wie in der Psychoanalyse bei Freud auf der Couch. Du wirst der Stollen-Freud."

Einblicke in die Familiengeschichte

Nach und nach kommt in den Geschwistergesprächen heraus, wie sich die Traumata des Holocaust auf den Vater ausgewirkt hatten. Einen Mann aus Stahlbeton, sagt einer der Söhne, hätten die schrecklichen Erlebnisse aus ihm gemacht, einen Mann, der nicht mehr imstande war, Liebe zu geben, erzählt die Tochter.

Und David Fisher selbst machte noch eine andere Entdeckung: "Mein Vater war in Israel im Straßenbau tätig, speziell auch im Bereich Tunnelbau. Da muss es für ihn einen inneren Zwang gegeben haben, genau die Tätigkeit auszuüben, zu der er während seines Jahres im Konzentrationslager gezwungen worden war."

Es sind entwaffnend intime Einblicke in seine Familiengeschichte, die David Fisher erlaubt. Gerade deshalb kommt "Six Million and One" einem Verständnis des Holocaust und seiner Folgen näher, als noch kaum ein Film vor ihm.

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Fisher Features - Six Million and One