"Sie müssen schon die Originalzutaten haben"
Vivienne Westwood
Vivienne Westwood, geboren im kleinen Ort Tintwistle bei Manchester, wollte eigentlich Schriftstellerin werden. Mitte Zwanzig entdeckte sie ihr Talent, Zeitströmungen zu Mode zu verdichten. Mit 30 Jahren eröffnete sie in der Londoner King’s Road ihr erstes Geschäft. Es folgten Fetischmode, Punk, Piratenlook und die Wiederentdeckung des Barock und der Schotten-Tartans.
8. April 2017, 21:58
Heute gilt sie als eine der zehn besten Modeschöpfer der Welt, ist längst von Queen Elizabeth II. in den Stand eines "Offiziers des britischen Empire" erhoben worden und exportiert Waren im Wert von mehr als 44 Millionen Euro. Provokation gehört ebenso zu ihrem Markenzeichen wie ihre Kreativität. "Wenn Leute hässlich angezogen sind, beachte ich sie nicht." - Authentische Tracht hat Vivienne Westwood schon lange fasziniert. Vivienne Westwood über Tracht, Tradition und Handwerkskunst - im Gespräch mit Michael Kerbler.
Vivienne Westwood, wie wichtig ist Ihnen Trachtenmode. Welchen Einfluss übt Tracht auf Ihre Entwürfe und Kollektionen aus?
Zwei Dinge möchte ich gleich zu Beginn hervorheben. Erstens: ich mag schon dieses Gefühl, das ich beim Tragen dieser ländlich-rustikalen Kleidung verspüre. Diese Nobilität, die man beim Tragen traditioneller Kleidung empfindet. Zweitens: Wenn ich von Tradition spreche, dann meine ich damit Formen überlieferter Handwerkskunst. Der größte Fehler des 20. Jahrhunderts war es, anzunehmen, dass wir es uns leisten können, Tradition und Handwerkswissen einfach über Bord zu werfen. Und zu glauben, dass das Zeitalter der Technologie es uns erlauben könne, Tradition zu negieren. Wer Tradition ablehnt, schüttet das Kind mit dem Bade aus. Wer Tradition negiert, verliert sein Fundament. Handwerkskunst ist etwas Überliefertes, letztlich entstanden durch ununterbrochenes Lernen. Durch eine lebenslange Lehre, die allerdings in dieser Form niemals an einer Schule unterrichtet werden könnte.
Sie haben jetzt wiederholt davon gesprochen, dass Handwerkskunst verloren geht und haben direkt die Maschine dafür verantwortlich gemacht. Welche Konsequenzen sehen Sie, wenn diese Entwicklung andauert. Haben Sie ein Konzept dagegen zu steuern?
Was jetzt gerade geschieht, ist eine Katastrophe. Ich befürchte, dass vieles auf Grund dieser Haltung, auf handwerkliche Fähigkeiten zu verzichten, vielleicht unwiederbringlich verloren geht. Was mich betrifft, so wende ich sehr viel Zeit und Energie für die Suche und Recherche nach vergessenen Quellen der Schneiderkunst auf. Ob es sich etwa um die originale Kleidung der französischen Musketiere aus dem 15. bzw. 16. Jahrhundert handelt oder um Kleidung aus dem antiken Griechenland.
Sehen Sie sich eigentlich auch Modezeitschriften an, um die eine oder andere Anregung für Ihre Überlegungen zu gewinnen?
Niemals. Ich sehe mir nie Modemagazine an. Die geben mir gar nichts. Das wäre doch genau so, als würden sie in einen Supermarkt gehen, dort eine größere Anzahl von Dosennahrung kaufen und dann zu Hause den Inhalt der Dosen in einen einzigen Topf zu leeren, um daraus ein köstliches Menü zu bereiten. Nein, das kann und das wird niemals gelingen. Sie brauchen immer das Originalrezept und die ursprünglichen Zutaten. Und genau so verhält es sich mit der Mode. Sie müssen soweit wie irgend nur möglich zurückgehen, um das Original, den Ursprung zu finden. Nur dann können sie die Form und die Bedeutung der Schnittführung nachvollziehen. Selbst Details, auf welche Art und Weise zum Beispiel Stoffe vernäht wurden, sind essentiell. Wer künstlerischen Ausdruck erzielen will, muss sein Handwerk beherrschen. Ohne Kunstfertigkeit ist man zum Scheitern verurteilt.
Das ist wie mit einer Prima Ballerina. Zu aller erst muss sie die Techniken des Ballettanzes beherrschen. Erst dann wird sie dem Tanz eine wirklich große emotionale Ausdruckskraft verleihen können. Ich mag mit diesen Aussagen etwas ketzerisch klingen, aber die Menschen glauben nicht mehr an diese Grundsätze. Und die Folge davon ist diese ununterbrochene Wiedergeburt von Klischees und Parodien und letztlich Minimalismus. Irgendwann stehen wir mit dem Rücken zur Wand. Und dann wird uns nichts anderes übrig bleiben, als uns mit unserer Herkunft und den Quellen der Tradition zu befassen. Es gilt die Traditionen wieder zu entdecken. Um das eigene Handwerk wieder beherrschen zu können.
Sie haben einmal über sich gesagt: "Unorthodox zu sein ist der Schlüssel zu meiner Persönlichkeit". Aus welchen Quellen schöpfen Sie, wo liegt der Ursprung Ihrer Kreativität, wenn es nicht die Modemagazine sind.
Vor hundert Jahren wäre diese Frage nicht so formuliert worden. Denn die Menschen damals haben gewusst, dass niemals etwas von Grund aus neu entsteht, niemals gänzlich neu erfunden wird. Und dass nichts nur aus dem Grund erzeugt wurde, nur um bloß modern zu sein. Alles, was von Bestand ist und Gültigkeit besitzt, ist zeitlos. Niemand, der wie ein kopfloses Huhn durch die Gegend läuft, hat jemals etwas von zeitloser Gültigkeit geschaffen. Wer meint, nichts versäumen zu dürfen, hat schon alles verpasst. Weil ich ein schöpferischer Mensch, weil ich ein innovativ bin, kann ich mir erlauben zu sagen: wer etwas Neues schaffen will, muss studieren, muss suchen und aufsaugen, was bereits dagewesen ist. Nur dann wird er in der Lage sein, Alternativen zu entwickeln.Das gilt natürlich auch für mich. Vor fünf Jahren wäre ich nicht in der Lage gewesen, die Kleidung zu machen, die ich heute produziere.
Sie haben einmal über sich gesagt: "Unorthodox zu sein ist der Schlüssel zu meiner Persönlichkeit". Aus welchen Quellen schöpfen Sie, wo liegt der Ursprung Ihrer Kreativität, wenn es nicht die Modemagazine sind.
Vor hundert Jahren wäre diese Frage nicht so formuliert worden. Denn die Menschen damals haben gewusst, dass niemals etwas von Grund aus neu entsteht, niemals gänzlich neu erfunden wird. Und dass nichts nur aus dem Grund erzeugt wurde, nur um bloß modern zu sein. Alles, was von Bestand ist und Gültigkeit besitzt, ist zeitlos. Niemand, der wie ein kopfloses Huhn durch die Gegend läuft, hat jemals etwas von zeitloser Gültigkeit geschaffen. Wer meint, nichts versäumen zu dürfen, hat schon alles verpasst. Weil ich ein schöpferischer Mensch, weil ich ein innovativ bin, kann ich mir erlauben zu sagen: wer etwas Neues schaffen will, muss studieren, muss suchen und aufsaugen, was bereits dagewesen ist. Nur dann wird er in der Lage sein, Alternativen zu entwickeln.Das gilt natürlich auch für mich. Vor fünf Jahren wäre ich nicht in der Lage gewesen, die Kleidung zu machen, die ich heute produziere.
Welches Ziel haben Sie für sich ganz persönlich gesteckt. Was wollen Sie eigentlich wirklich erreichen?
Ich lege sehr viel Wert auf das Sich-Wohlfühlen beim Tragen der Kleider. Ein Beispiel: das Korsett, das ich wieder erfunden habe und das ursprünglich aus dem 17. /18. Jahrhundert stammt - hat ein Dekolletee produziert, das so 200 Jahre nicht zu sehen war. Ursprünglich war das Korsett Teil einer ländlichen Tracht, das allerdings von Herrenschneidern hergestellt wurde und in das der Körper regelrecht hineingezwängt wurde. Dank der modernen Stoffe, elastischer Seitenteile, dem Zippverschluss und einer geringeren Anzahl von Fischbeinen ist es mir gelungen, daraus ein leicht tragbares Kleidungsstück zu machen. Ein, zwei Mal während meiner Karriere habe ich Schnitte und Silhouetten kreiert, die es so zuvor noch nicht gegeben hat. Und das ist doch eine besondere Auszeichnung im Zeitalter der Konformität. Es gilt, neue Standards des Besonderen zu schaffen. Und das ist es, was ich erreichen will.
Ich trage einen authentischen Trachtenanzug aus Österreich. Bin ich deshalb schon ein Opfer der Konformität?
Wissen Sie, man kann Tracht tragen und angepasst sein. Und Sie können Tracht tragen und genau das Gegenteil eines Konformisten sein. Das hat doch mit ihrer Einstellung um Leben zu tun, mit ihrem Esprit, wie und welche Kleidungsstücke Sie auswählen und miteinander kombinieren. Wie auch immer - ein klein wenig könnten Sie noch an sich verbessern.