Roman von August Strindberg

Das Rote Zimmer

"Es war an einem Abend Anfang Mai." Dieser harmlose Beginn von August Strindbergs Roman "Das Rote Zimmer" lässt ebenso wenig ahnen, was darin an scharfsichtiger Diagnose enthalten ist, wie die anschließende grandiose Beschreibung von Natur und Landschaft.

Eher führt da schon das vorangestellte Motto ins Zentrum des Romans - ein Zitat von Voltaire: "Nichts ist so verdrießlich, wie im Stillen gehängt zu werden." Im Stillen gehängt werden im Grunde alle Romanfiguren - auch wenn nur eine von ihnen zu Tode kommt und es sich dabei um einen präzise reflektierten Suizid handelt. Aber die Gesellschaft verfügt über genau beschriebene Mechanismen, um das Individuum im Stillen zu töten und als Leiche dennoch weitervegetieren zu lassen.

Unterschätzter Autor

Diese Diagnose erzählen die 29 Romankapitel in vielen Kaleidoskop-artig angeordneten Szenen und vor allem in grandioser Sprache. Dass August Strindberg ein präzises Ping-Pong von Dialogen und knapp verdichtete Szenen inszenieren kann, erwartet man vom Autor von Stücken wie "Fräulein Julie" oder "Totentanz". Dass er aber auch über die genau treffenden Vokabel für die Beschreibung von Physiognomien und Gesten verfügt, das zeigt, wie unterschätzt er im deutschen Sprachraum als Prosaautor immer noch ist.

Wie sich gesellschaftliche Anpassung im Gesicht niederschlägt und in den Körper eingräbt, das hat so vielleicht nur Robert Musil in seinem Prosatext "Ein Mensch ohne Charakter" beschrieben, der in der Sammlung "Nachlass zu Lebzeiten" von 1936 zu lesen ist. August Strindberg führt auch den absoluten Endpunkt dieser Anpassung vor, wenn er über eine Romanfigur schreibt:

Langer Weg zum Präsidenten

Kaum zu glauben, dass das Original dieses außergewöhnlichen Romans bereits 1879 erschienen ist. Und liest man die folgende Beschreibung eines Amtes, ist es auch kaum zu glauben, dass hier nicht Österreich gemeint ist:

Eine Anmerkung zu dieser Passage enthält die wunderbare Auskunft: "Die genannten Ressorts gab es - wenn auch nicht in einer einzigen Behörde - ausgenommen den 'Kontrolleurssekretär'." Der Manesse Verlag, in dessen bekannter "Bibliothek der Weltliteratur" Strindbergs Roman erschienen ist, hatte den Mut, die Neuübersetzung mit 281 Anmerkungen auszustatten. Das verlangt deshalb eine gehörige Portion Mut, weil den Leserinnen und Lesern damit die vielen unbekannten Details einer für sie völlig fremden Welt signalisiert werden und ihnen damit klar wird, dass man nicht im Zeitraffer durch diesen Text jagen kann.

Autobiografisches eingeflossen

Was die erfahrene österreichische Übersetzerin Renate Bleibtreu hier an Recherche-Arbeit geleistet hat, um biblische und literarische Anspielungen, aber vor allem das Stockholm des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu erschließen, ist unbeschreiblich. Dass sie die Fremdheit des Textes, seiner Entstehungszeit wie des Ortes, an dem er spielt, nicht unterschlagen, sondern geradezu erlebbar machen wollte, spiegelt sich im immensen Repertoire ihrer Sprache, die Umgangssprachliches ebenso wiedergibt wie Strindbergs Hang zu erlesenen Fremdwörtern und seltenen beziehungsweise bereits zu seiner Zeit veralteten Wörtern.

Umso deutlicher hebt sich davon das Heutige und Aktuelle dieses Romans ab, das bis in die Details reicht. Wenn etwa in einer Zeitung die Frage aufkommt: Am Tag, an dem die Annonce erscheint, kann doch wohl nicht die Kritik erscheinen?, dann könnte man durchaus glauben, Zeuge einer Diskussion zwischen Redaktion und Werbeabteilung von heute zu sein. Und wer den aktuellen Verlust von Literatur-, Kunst- und Kulturkritik beklagt, kann das Argument der Geschäftsführungen dafür schon in Strindbergs "Rotem Zimmer" lesen: "Die Öffentlichkeit will kein Urteil, sie will, dass ihre Wünsche in Erfüllung gehen!" Strindberg hat da viele eigene Erfahrungen als Journalist, überhaupt viel Autobiografisches von seinem Weg in die Literatur in den Roman einfließen lassen, worauf das Nachwort auch hinweist.

Tragödie und Ironie treffen zusammen

Der Weg in die Literatur, in die Kunst - das ist das eigentliche Thema dieses kritischen und detailgenauen Gesellschaftspanoramas. Der junge Arvid Falk schlägt eine Beamtenlaufbahn aus, er will Literat werden. Gefragt, warum er denn eine Laufbahn aufgebe, die Macht und Ehre bringt, antwortet er: "Ehre denen, die sich der Macht bemächtigten, und Macht den Rücksichtslosen." Aber er sieht in quälender Deutlichkeit, dass er mit seinem Blick auf die Machtlosen, auf die Entrechteten nicht weit kommt - dieser Blick wird im Journalismus wie in der Politik lächerlich gemacht. Falk radikalisiert sich - und wird gerade im radikalsten Blatt, für das er schreibt, der "Arbeiterfahne", bitter enttäuscht: Er muss erleben, wie ein Laufbursche vom Chef mit dem Riemen verprügelt wird und niemand für ihn eintritt.

Am Ende wird Falk von einem Freund sozusagen "kuriert" - er sieht die Aussichtslosigkeit seines Tuns ein und wird Lehrer. Statt Politik interessiert er sich nun für Numismatik. Und der Roman konstatiert ironisch: "Falk hat so gar keine Ansichten, er ist der liebenswerteste Mensch, beliebt und geschätzt bei Vorgesetzten und Kollegen." Und er fügt sich damit in das Kaleidoskop des Scheiterns, der Aufgabe der Ideale und Wünsche, des Individuellen und Eigenen. Überflüssig zu sagen, dass der Roman dem nicht das Wort redet, sondern die begrabenen Hoffnungen nur umso intensiver zum Glühen bringt.

Die vielen Episoden, in denen das geschieht, lassen sich nicht auf knappem Raum nacherzählen, ja nicht einmal die wie in einem Karussell immer wiederkehrenden Personen lassen sich nennen, hingewiesen sei aber wenigstens auf Olle Montanus, der sich bewusst für den Suizid entscheidet. Sein Abschiedsbrief nimmt auf knappem Raum vieles vorweg, was im 20. Jahrhundert Denker wie E. M. Cioran oder Jean Améry zur Apologie des Suizids geschrieben haben.

Tragödie und beißende Ironie sind immer nahe zusammen in diesem ungewöhnlichen Roman, der 1879 den Durchbruch des Schriftstellers August Strindberg in Schweden bedeutet hat. Seine Beispiele der Anpassung des Denkens an das Leben sind den heute zu beobachtenden schmerzlich nahe. In der Neuübersetzung von Renate Bleibtreu ist dieses Buch alles andere als ein Pflichtbeitrag zu August Strindbergs 100. Todestag, sondern es gehört zu den aufregendsten Wiederentdeckungen der letzten Jahre.

Service

August Strindberg, "Das Rote Zimmer. Schilderungen des Lebens als Künstler und Schriftsteller", aus dem Schwedischen übersetzt von Renate Bleibtreu, Manesse Verlag

Manesse - Das Rote Zimmer