Kulturinfarkt

"Café-Sonntag"-Glosse von Franz Schuh

Es ist nicht so lange her, da haben zwei Chemnitzer Wirtschaftsforscher, wie es so schön heißt, "für Aufsehen gesorgt". Sie haben nämlich genau berechnet, wie hoch die soziale Mindestsicherung in Deutschland sein müsste.

Franz Schuh

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Die wissenschaftliche Basis der Wirtschaftsforscher war ein Warenkorb, der eindeutig bewies, der Bedarf, den Arbeitslose haben, sei viel niedriger anzusetzen als der geltende Regelsatz. Die Arbeitslosen bekommen zu viel, man kann ihnen noch 219 Euro im Monat nehmen - und dann geht's auch.

Das wissenschaftlich bewiesene Leben des mit der richtigen Summe versehenen Arbeitslosen verliefe dann so: Essen holen bei Aldi, dem Billigkaufhaus, gelegentlich Kleidung und Schuhe aus dem Restpostenladen oder bei Billigketten - seltener Möbel aus dem Ein-Euro-Laden oder dem Baumarkt.

Für Freizeit, Unterhaltung und den Besuch von Kultur "gestehen" die Forscher Arbeitslosen gerade einen Euro pro Monat zu. Geld für Zigaretten, Bier und Schnaps sollen sie nicht mehr vom Staat bekommen.

Natürlich nicht, aber die Arbeitslosen haben ja immerhin die Möglichkeit ihren Kultureuro für Zigaretten, Bier und Schnaps umzuwidmen. Kultur ist ja etwas Kostbares - dafür kriegt man ein Bier, das man trocken mit Schnaps hinterspült. Viele Kulturarbeiter und Kulturarbeitslose haben diese Spül-Leidenschaft, und wenn erst der Durst im Löschen begriffen ist, rauchen wir uns dazu gerne eine an. Aber wer soll das in Zukunft bezahlen, zumal wiederum ein paar andere Professoren genau beweisen, dass man künftig auf die Hälfte der subventionierten Kultur-Institutionen verzichten könne. Überhaupt soll der Staat seine öffentliche Hand aus der "ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts", also aus der Kultur, raushalten.

Es ist falsch, mit den üblichen Floskeln der Kunstreligion und ihrer Heilsversprechen zu antworten. Der Philosoph Wolfgang Ullrich hat es mir vor Augen geführt: Seinerzeit, als Jean Jacques Rousseau der Held des Geisteslebens war, hätte alles noch ganz anders kommen können. Jean Jacques Rousseau war nämlich ein Kunstfeind: Kunst war für ihn ein unnötiger Zeitvertreib. Die Kunstfeindlichkeit hätte ein allgemeines Kulturgut werden können. Aber nicht zuletzt die Romantiker haben - auf Grund ihrer Nähe zur Religion - die Sache so gedreht, dass das Kunstwerk Stellvertreter des Übersinnlichen auf Erden wurde, und wenn man die Künstler und Kulturmanager so reden hört, glaubt man, dass die das immer noch glauben. Gleichzeitig kommt ein schales Geräusch in diese Reden hinein. Man will ja nicht umsonst reden, man muss doch auch den Subventionsgeber glauben machen, dass er für etwas Höheres, als er selbst es ist, gibt. Das schnöde Anliegen klingt nicht gut in den Reden von der Transzendenz, vom Erlösungspotential der Kunst; es ist - wie so vieles, das sich nicht überhören lässt - Reklamequacksprech.

Zum Reichtum der sozialpartnerschaftlichen Gesellschaft von ehedem gehörten die Sozialleistungen und die kulturelle Vielfalt. Jetzt haben alle Mächtigen nix als Sparen vor (an den anderen natürlich), und sie werden - mit ihren guten Gründen - auch das öffentliche Leben tot sparen. Die Kultur hat - zum Glück? - auch etwas Unbegründbares. Man kann sie nicht beweisen wie die Professoren irgendwas beweisen. Kultur ist, politisch gesehen, eine Willensfrage: Will man einzig und allein die fremdensverkehrsträchtige Kultur, deren unschlagbare Plausibilität das Geld ist, oder will man sich, obwohl man es nicht wirklich begründen kann, die Vielfalt (oder wenigstens den Schatten von ihr) weiterhin leisten?