Der Schriftsteller Serhij Zhadan
Das runde Leder der Ukraine
Serhij Zhadan, einer der bekannteste ukrainischen Schriftsteller und Dichter der jüngeren Generation, wird 1974 in Starobilsk im Gebiet Luhansk in der Ostukraine geboren. Er studiert in Charkiw, der zweitgrößten Stadt des Landes, Germanistik. In Literaturwissenschaft promovierte er über den ukrainischen Futurismus.
8. April 2017, 21:58
Das Aufbegehren gegen alles Alte, wie es die klassische Avantgarde vorexerziert hatte, war auch die Grundhaltung des angehenden Lyrikers, der Mitte der 1990er Jahre, wenige Jahre nach der Unabhängigkeit der Ukraine, erstmals auf den Plan trat. Mittlerweile sind ein Dutzend Gedichtbände erschienen, mehrere Erzählbände und Romane, auf Deutsch erscheinen Zhadans Bücher bei Suhrkamp.
Tritt der schmächtige, quirlige "Rimbaud aus Charkow" in seinem weißen, grünen, blauen Overall vor sein Publikum, wird vor allem eines freigesetzt: Energie. Ob im Theater, Kellerlokal oder im aufgelassenen Kino, Zhadan rezitiert rappend bisweilen eine halbe Stunde frei.
Rotzig und frech
Im ersten deutschen Gedichtband mit dem ausladenden Titel: "Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts", der nebenbei während eines Wien-Aufenthaltes entstand, erwies sich der damals 26-jährige Zhadan schon als denkbar abgeklärt rotzig:
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Die käuflichen Dichter der Sechziger sollen froh sein, / dass alles so glimpflich abging, / Gefahren gab es ja mehr als genug, / doch sieh an - sie sind durchgekommen, haben ihre Kredite zurückgezahlt, / nur dass die Kriegswunden pochen in stürmischen Zeiten / wie Menstruationsschmerz.
Die "käuflichen Dichter" der Sechziger Jahre, das waren die klassischen Sowjetdissidenten, mit denen Zhadan nichts mehr am Hut haben wollte, auch wenn er wusste, dass "am Ende nur die käuflichen Dichter überleben".
Vom Nullpunkt an
Zhadan gehört einer Generation an, die für sich den Nullpunkt der ukrainischen Literatur erklärte. Alles, was früher geschrieben wurde, war tot. Ideologisch hieß das, es gibt keinen "dritten Weg" zwischen Kommunismus und Kapitalismus - im konkreten Leben: No Future. Bestenfalls Anarchie. Das Motto über einem von Zhadans Romanen stammt denn auch von den Sex Pistols: statt "Anarchy in the UK" "Anarchy in the UKR". Anarchie in der Ukraine. "Depeche Mode", Zhadans erster erfolgreicher Roman, beginnt so:
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Als ich vierzehn war und meine eigenen Vorstellungen hatte, was das Leben betrifft, ließ ich mich zum ersten Mal volllaufen. Bis zum Anschlag. (...) Es war heiß, über mir schwammen die blauen Himmel, und ich lag sterbend auf der gestreiften Matratze und konnte meinen Kater nicht mal mit Alkohol bekämpfen, denn ich war erst vierzehn und wusste noch nicht, wie das geht.
Die beschleunigte Prosa von "Depeche Mode" ist ein Road Movie zwischen Baltikum, Schwarzem Meer und Stillem Ozean. Ein gewisser Dog Pawlow, und ein gewisser Wasja Kommunist, sowie der Ich-Erzähler Zhadan machen sich auf die Suche nach ihrem Freund Sascha Zündkerze. Das Irrlichtern mit viel Wodka, Witz und Sex endet nach einer Schwarzfahrt im Zug durch die zerstörte Steppenlandschaft in einer aufgelassenen Fabrik im heimatlichen Charkow.
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Die Fabrik zerfiel wie alles im Land; was zu stehlen war, stahl der Direktor, was nicht, machte er kaputt, sagen wir, er hielt sich an die Instruktionen der Zivilverteidigung.
Anarchy in the UKR
Gegen den in den 2000er Jahren heraufziehenden Oligarchen-Kapitalismus setzt Zhadan auf Anarchismus pur. In "Anarchy in the UKR" wir seine Prosa zur Predigt:
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Vergiss die Politik, lies keine Zeitungen, hör kein Radio, schlag den Fernseher ein, stell ein Farbporträt von Mao oder Fidel hinein, lass dich nicht verarschen, geh nicht ins Netz, geh nicht wählen, sag nein zur Demokratie, geh nicht auf Demos, tritt keiner Partei bei.
Karl Kraus beschrieb das Phänomen einmal so: "Und das Chaos sei willkommen, denn die Ordnung hat versagt!" Serhij Zhadan wusste - am Vorabend der orangen ukrainischen Revolution -, dass mit nichts mehr ein Staat zu machen ist. Und in den Zeiten von Pop sowieso nicht.
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Mao ist tot! Fidel ist tot! Lass dich nicht verarschen!
Die Moral der Geschichte: "Geh zum Militär!" Das rät zumindest eine verzweifelte ukrainische Mutter ihrem missratenen Sohn in "Woenomat" – "Stellungskommission". Junge, geh zum Militär, dann hörst du endlich mit den Drogen und deinen ewigen Weibergeschichten auf. Das Militär macht wieder einen Menschen aus dir. Aber Mutter, entgegnet der Sohn, schau dir doch das Land an: Die Verteidigung der Ukraine ist schlechter beisammen als die von Chelsea.
Fußballfan von Kindheit an
Dass Zhadan die Grenzen der Literatur - und vor allem seiner Literatur - immer klar waren, verrät ganz besonders ein Umstand: Literatur ist kein Gegenstand der Massen. Nicht zuletzt deshalb war Zhadan immer ein Fußballfan. Die Begeisterung für das runde Leder findet sich in all seinen Büchern - maximal lakonisch etwa so:
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Einer geht noch, einer geht noch rein, / Ihr seid Wichser, der Schiri ist ein Schwein.
Rechtzeitig zur EM 2012 hat Serhij Zhadan einen Sammelband mit acht Beiträgen zu den acht Austragungsorten des Turniers in der Ukraine und in Polen zusammengestellt. Acht prominente Autoren - von Pawel Huelle bis Jurij Andruchowytsch - beschreiben darin ihren Fußball, von Warschau über Krakau bis Lemberg und Charkiw.
Zhadan selbst hat sich den wichtigsten Ort des heutigen ukrainischen Fußballs, Donetsk, ausgesucht. Warum trägt das Ganze den martialischen Titel "Totalnij Futbol"? "Totaler Fußball war offiziell ein populärer Terminus in den 70er Jahren", erklärt Zhadan, "solchen Fußball hat Dynamo Kiew mit Waleri Lobeanwoskij als Trainer gespielt. Das war ein Fußballterminus. Das ist ein sehr aggressiver, sehr dynamischer Fußball. Wenn alle Spieler zuerst attackieren und dann alle zurückkommen. Das war in den 70er Jahren ein superneues Modell. Jetzt spielen so alle guten Mannschaften."
Es ist mehr als die üblich Alibisportbegeisterung von Intellektuellen und solchen, die sich dafür halten – was Serhij Zhadan an den "Futbol" bindet. Seit seiner Kindheit und Jugend an. Es ist eine Frage der persönlichen Identität und aller damit verbundenen prekären Fragen. Mit dem Untergang der Sowjetunion ist auch der sowjetische Fußball sang und klanglos verschwunden.
Fußball ist Fußball, Bordell ist Bordell
Serhij Zhadan ist in Sachen "Fußball" ein fast bedenkenloser Patriot: Von den Protesten der Aktivistinnen von "Femen" etwa, die befürchten, dass mit der EM die Ukraine in ein Bordell verwandelt werde, hält er wenig. Fußball ist Fußball, Bordell ist Bordell. Zhadan geht es um den Fußball pur. Pur, das heißt, Fußball ist immer auch ein Spiegel der Gesellschaft, und zwar der Gesellschaft im Ganzen.
Im Fall der Ukraine geht das Phänomen aber noch tiefer: Hier ist Fußball eine "nationale Idee". "Irgendwie hat es der Fußball geschafft, über all dem zu stehen, auch weiterhin ersetzt der Fußball die nationale Idee, macht aus ukrainischen Teenagern ukrainische Bürger und offenbart das Siechtum der vaterländischen Bürokraten", so Zhadan. "Ich übertreibe nur wenig, wenn ich sage, dass das Land vom Fußball lebt."
Zhadan ärgert sich denn auch maßlos darüber, dass es die Orangenen Revolution und ihre Politiker verabsäumt haben, diese Kraft des Fußballs und seiner Fans zu einem nachhaltigen Motiv für die Entwicklung des Landes zu machen. Für Zhadan kommt deshalb auch der Oligarch Renat Achmetow, der seinen Donetsker Verein "Schachtar" zum ukrainischen Meister der letzten Jahre machte, mit einem blauen Auge davon, auch wenn der Mäzen selbst von Fußball gar nichts versteht.
Um eine düstere Prognose für die Zukunft ist Serhij Zhadan nie verlegen - ganz besonders, was die Ukraine betrifft:
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Man kann schon heute prognostizieren, dass ein Scheitern der EM jener kleine Tropfen sein wird, der das Fass der gesellschaftlichen Duldsamkeit zum Überlaufen bringt und die allgemeine Ruhe stört, die immer bedrohlicher wird. Und dann wird es niemandem mehr um Fußball gehen.
Kurz gesagt: Bevor die Ukraine endgültig untergeht: Auf nach Kiew, nach Lemberg, Charkow und Donetsk!
Service
"Totalniy Futbol: Eine polnisch-ukrainische Fußballreise", Lesung und Gespräch am 5. Juni 2012, 19:00 Uhr, Strandbar Herrmann, Wien
Suhrkamp - Serhij Zhadan
Polnisches Institut Wien