Hommage von Katja Huber

Coney Island

Als Paul Steinberg, ein renommierter amerikanischer Psychoanalytiker, der auch mit 80 Jahren noch praktiziert, Bücher schreibt und Vorlesungen hält, von einem Gastvortrag nach New York zurückkehrt, geschieht Unerwartetes. Eileen, die Sekretärin, die ihn eigentlich abholen sollte, ist nicht zur Stelle.

Stattdessen bemerkt Professor Steinberg ein Schild mit der Aufschrift "Professor Sternberg". Sein Träger, ein bärtiger, mittelgroßer Typ, behauptet, Eileen habe nicht kommen können, er werde ihn stattdessen nach Hause fahren. Der Professor folgt dem Mann, nimmt in einem zugemüllten Kleinwagen Platz und wundert sich über die Route des Fahrers. Steinberg wohnt in Manhattan, der Fremde aber fährt ins südlichste Brooklyn, nach Coney Island.

Hier, in seiner Wohnung, warte Eileen, behauptet der Mann, doch Steinberg begegnet dort nicht der Sekretärin, sondern einer verwirrten Alten, Selma, der Mutter von David, dem Unbekannten. Steinberg diagnostiziert: "zwanghafte Persönlichkeit", es kann Wochen dauern, bis einer wie er ihm erklären würde, was er tatsächlich von ihm will. Doch der anfängliche Unmut über Davids obskures Verhalten weicht Rührung über dessen Unbeholfenheit und der Erkenntnis, dass Selmas Gegenwart eine beruhigende Wirkung auf ihn hat.

Merkwürdige Begegnungen

Steinberg, ein melancholischer, in seiner Trauer gefangener Witwer, hört schnell auf, gegen die neue Situation zu rebellieren, er findet Gefallen an ihr. "So schnell verlasse ich Sie nicht", sagt er zu Selma. "Zu Hause erwartet mich nichts!"

"Coney Island" von Katja Huber ist ein absurd-komischer, aber auch von einer Stimmung von Abschied und Scheitern durchzogener Roman über eine ziemlich schräge Entführung, merkwürdige Begegnungen, verkrachte Existenzen und neue Hoffnungen.

"Die Idee hat mir ganz gut gefallen, dass wirklich ein Mensch, der sich professionell damit befasst, anderen Menschen zu helfen, und der sein ganzes Leben lang Leute therapiert und analysiert hat, tatsächlich durch so eine Begegnung selber therapiert wird", sagt Katja Huber. "Das fand ich eine ganz schöne Idee. Professor Steinberg muss sich weder in eine Analyse noch eine Therapie begeben, das würde bei ihm nichts helfen, um seine Trauer zu überwinden. Vielleicht muss man da zu so drastischen Mitteln greifen wie Pseudoentführungen."

Bunter Personenkreis

"Coney Island" spielt innerhalb einer knappen Woche im Oktober 2007 und versammelt ein illustres Personal: Da ist David, der von einer Filmkarriere träumt und ein Coney-Island-Buch plant, mit vierzig aber noch bei seiner Mutter lebt, offenbar nichts auf die Reihe kriegt und unter der Trennung von seiner Freundin leidet. "Ich habe es satt, Muse zu sein für einen Menschen, der Hunderte von Notizblöcken und Schuhkartons mit Ideen füllt, aber keine einzige verwirklicht!" hat die ihm zum Abschied zugerufen. David ist pleite und mit der Miete im Rückstand, als er im Radio ein Interview hört mit Steinberg. Steinberg ist die Rettung, "eine andere gibt es nicht", ist David überzeugt.

Da ist Selma, Davids Mutter, die an Demenz erkrankt ist, Gegenwart und Vergangenheit ständig durcheinanderbringt und immer mit ihrem Sohn Hausaufgaben machen will, eine fürsorgliche jüdische "Mame", konfus, weise und warmherzig.

Da ist Steinberg, der ebenfalls aus jüdischen Immigrantenkreisen kommt, den Selma an seine depressive Mutter erinnert und die späte Rückkehr nach Coney Island an seinen Hochzeitstag vor über 50 Jahren, einen Tag im Vergnügungspark voller Glücksgefühle.

Da ist Serjosha, der Fotograf, der als Kellner jobbt und mit Eileen schläft, und Leo, der Maler, der als Pfleger arbeitet und Serjosha begehrt, da ist Yana, die Eileen die Geschichte von Natasha erzählt, in der wiederum David und Steinberg auftauchen, während Leo Selma die Geschichte vom unglücklichen Iwan vorträgt...

All ihre Wege kreuzen sich, ver- und entwirren sich in Katja Hubers hübsch abstruser Romankomödie, die ständig Zeitsprünge und Perspektivenwechsel vollzieht, eine im Grunde ziemlich banale Story ziemlich kompliziert und raffiniert erzählt und Coney Island als Eldorado der Gescheiterten, der Verlierer und Verlorenen, nicht aber Hoffnungslosen vorstellt.

Ein Ort der Erwartungen

"Alle Figuren oder fast alle Figuren im Roman haben Schwierigkeiten, sich festzulegen – was man ihnen auch vorwerfen kann", so Katja Huber. "Auf der anderen Seite sind es auch Figuren, die sich mit bestimmten Realitäten nicht abfinden wollen. Was ja auch Menschen motivieren kann, an ihrem Zustand oder am Zustand der Welt etwas zu verändern. Es ist dieser Wunsch, dass man noch nicht am Ende seiner Möglichkeiten steht."

Katja Hubers Roman ist auch eine Hommage an die Gegend, die dem Buch den Titel gab: Coney Island, wo einst die Mafia-Bosse lebten und heute vor allem russische Immigranten zuhause sind. Er führt in die einschlägigen Bars und Cafés, in die Vergnügungsparks mit Achterbahn und Freakshow, an den Boardwalk und den Steeplechase Pier - und findet in David den wahren Coney-Island-Romantiker, der alles über die "Kanincheninsel" sammelt und die alte, längst von der Gentrifizierung erfasste Gemeinde in einem Bildband noch einmal auferstehen lassen will.

"Coney Island ist ein Ort, extrem mit Erwartungen verbunden, überladen mit Mythen, weil das dieser alte Vergnügungspark ist", meint Katja Huber. "Und es ist ein sehr nostalgischer Ort. Viele Leute, die nach New York reisen, schauen sich auch einen Tag Coney Island an. Inzwischen wird das renoviert, das soll ja ein Luxuswohnviertel werden. Aber eigentlich ist das so ein Sehnsuchtsort, würde ich sagen."

Fantasie- und Alternativwelten

"Coney Island" erfordert einen aufmerksamen Leser, es ist ein Roman voller Anspielungen und unvollendeter Geschichten. David schreibt ständig Geschichten auf Notizzettel und macht Skizzen für mögliche Filmanfänge, Leo spielt ein Spiel, das er "Alternativbiografie" nennt und vom Schein des schönen Lebens handelt, Steinbergs Sekretärin Eileen bekommt von Natasha ein "Drama" versprochen - "Ein kleines Drama, nur mit halbem Happy End!" -, Eileen selbst denkt sich Filmplots aus, die alle in einem Café in Brighton Beach spielen.

Immer geht es um Fantasie- und Alternativwelten, um Geschichten als Trost, als Ablenkung, als imaginierte Selbstverwirklichung. "Coney Island" ist ein Roman, in dem alle gern erzählen und niemand ganz sicher sein kann, ob das Erzählte nun wahr oder nur möglich ist, autobiografisch oder fiktiv.

"Das ist einfach meine Art zu schreiben: durch Erzählen über das Erzählen zu reflektieren - ohne dass da ein theoretischer Überbau zu spüren ist oder irgendwelche Theorien verhandelt werden", sagt Huber. "Es ist schon diese Lust am Erzählen, aber auch das Hinterfragen eindeutiger Erzählperspektiven, Erzählstile."

Skurril-schöner Roman

"Coney Island" ist weniger Krimi als Krimi-Persiflage, eine Parodie auf eine Entführungs- und Erpressungsgeschichte. David glaubt, Steinbergs Frau zu erpressen, hat es aber mit Steinbergs Sekretärin zu tun, die wiederum will mit Hilfe der Russenmafia Steinberg befreien und "seinen Erpresser bei vollem Bewusstsein gefesselt ins Meer werfen". Steinberg selbst will eigentlich gar nicht befreit werden, er genießt sein "neues Leben, mit Spaß und ohne schlechtes Gewissen". Er sorgt sich vielmehr um seinen tollpatschigen Entführer, der sich verhaspelt, verspricht und betrinkt, will dessen Schulden begleichen und seinen und Selmas Unterhalt finanzieren. Der Professor, in seinem letzten Radiointerview noch ein Pedant und Besserwisser, zeigt sich auf einmal großzügig und souverän.

Auch wenn es Katja Huber ein wenig übertreibt mit dem verschachtelten Geschichten-Erzählen, auch wenn nicht jede Episode überzeugt und nicht jede Figur wirklich Kontur gewinnt, so ist ihr mit "Coney Island" doch ein skurriler, schöner, manchmal auch schön verwirrender Roman gelungen, den ein oft fast nüchtern klingender Ton davor bewahrt, zur platten Farce zu werden.

Am Ende wird Professor Steinberg froh und ausgelassen sein, David seine Koffer packen, und eine kleine, alte Dame, die sich nicht mehr um ihren Sohn zu sorgen braucht, wird vergessen, dass sie nicht schwimmen kann und aufs offene Meer zuschreiten.

Service

Katja Huber, "Coney Island", Secession Verlag

Secession Verlag - Coney Island