Vorurteile bestimmen Sozialisation

Die Geschlechterlüge

Dass Männer weniger gelenkig als Frauen sind, zeigt sich in jeder gemischten Yoga-Stunde. Ist dies, so wie Einparken und Kindererziehen, eine geschlechtsspezifische Erscheinung oder nur eine Sache mangelnder Übung? Cordelia Fine plädiert für Letzteres.

Es gebe einen Terminus technicus für Leute, die glauben, dass kleine Buben und Mädchen ohne Unterschied auf die Welt kommen und dass sich ihre Natur erst aufgrund der Sozialisation herausbilde, zitiert Cordelia Fine den Harvard Professor Steven Pinker. Der Terminus laute "kinderlos".

Die Geschichten von Eltern, die versuchten, ihre Kinder gender-neutral zu erziehen, und die dann doch feststellen mussten, dass die kleine Emma den Bagger fürsorglich zudeckt und der kleine Laurenz die Puppen lieber erschießt als sie zu liebkosen, sind mittlerweile Legion. Alles habe man versucht, aber die Natur sei eben stärker, lautet das Fazit. Cordelia Fine, die mit ihrem Buch die gängigen Geschlechterlügen hinterfragt, will das so nicht stehen lassen.

Selbst jene Eltern, die überzeugt sind, ihr Kind jenseits der Genderstereotype zu erziehen, fallen unbewusst in eben jene Stereotype zurück. Schon vor der Geburt würden die Weichen dafür gestellt, so die Psychologin und Neurowissenschaftlerin. Laut einer amerikanischen Untersuchung wünschen sich Männer einen Sohn, um mit ihm Basketball spielen und jagen gehen zu können. Und die Mütter hätten gerne einen Sohn, damit der Vater jemanden hat, mit dem er viel unternehmen kann. Ein Mädchen hingegen hätten die Eltern gerne, um sie hübsch anzuziehen und ihr Puppen kaufen zu können.

Geschlechterspezifische Zuschreibungen

Die genderspezifischen Erwartungen setzen sich nach der Empfängnis fort. Auf die Frage, wie sich ihr Kind im Bauch bewege, konnten Forscherinnen bei jenen Frauen, die das Geschlecht ihres Kindes nicht kannten, kein bestimmtes Muster der Antworten feststellen. Die Schwangeren aber, die das Geschlecht des Babys kannten, beschrieben die Bewegungen unterschiedlich. Jene der männlichen Embryos wurden als "energisch" und "kräftig" bezeichnet, jene der Mädchen hingegen als nicht gewalttätig, nicht übermäßig energisch und nicht allzu lebhaft.

Und wenn das Baby dann da ist, beginnen die geschlechterspezifischen Zuschreibungen erst richtig. 2004 analysierten kanadische Forscher die Geburtsanzeigen, die in Zeitungen veröffentlicht wurden. Ihr Resümee: Bei Buben wurde öfters von Stolz gesprochen, bei Mädchen eher von Glück.

Unberechtigte Wertschätzung

Cordelia Fine zeigt in ihrem Buch, wie eingelernte soziale Normen auch heute noch das Geschlechterverhältnis dominieren. Am deutlichsten lasse sich das in der Arbeitswelt erkennen, meint die Psychologin. Die Überzeugung, dass Männerarbeit mehr wert sei als die von Frauen, könne man schon bei Zwölfjährigen finden. Als dieser Altersgruppe Abbildungen von Männern und Frauen gezeigt wurden, die unbekannte Arbeiten verrichteten, stuften die Teenager jene Tätigkeiten als schwerer, besser bezahlt und wichtiger ein, die von Männern durchgeführt wurden.

Frauen leisten eine "zweite Schicht"

In Familien mit Kindern, in denen beide Ehepartner voll berufstätig sind, kümmern sich Frauen ungefähr doppelt so viel um die Kinder und den Haushalt wie Männer. Die Soziologin Arlie Hochschild nennt das die "zweite Schicht". Die erste Schicht absolvieren die Frauen in der Arbeit, und dann legen sie noch eine zweite Schicht zuhause ein.

An der University of California gaben weibliche Fakultätsmitglieder an, 51 Stunden pro Woche im Job zu arbeiten, und dann nochmals 51 Stunden zuhause. Macht mehr als 14 Stunden täglich. Die männlichen Fakultätsmitglieder, die Kinder hatten, verbrachten hingegen nur 32 Stunden mit vergleichbaren Tätigkeiten.

Cordelia Fines Buch ist eine amüsant geschriebene, wissenschaftlich fundierte Abhandlung über das Geschlechterverhältnis im 21. Jahrhundert. Welche Unterschiede der Geschlechter sind biologisch begründet und welche nur sozial? Das ist die zentrale Fragestellung des Buches. Und wenn man Cordelia Fine glauben will, dann hat es nichts mit Biologie zu tun, dass Frauen nicht einparken und Männer keine Kinder erziehen können. Beide Geschlechter können beides – und wenn nicht, dann mangelt es nur an der Übung.

Service

Cordelia Fine, "Die Geschlechterlüge", aus dem Englischen übersetzt von Susanne Held, Klett-Cotta Verlag

Klett-Cotta - Die Geschlechterlüge