Zusammenbruch und Wiederaufbau

Ein Rundgang auf der documenta 13

Die Kunstausstellung documenta 13 wird in Kassel an so vielen Orten gezeigt wie noch nie. Auch wenn das Konzept verwirrend sein mag: in den Eröffnungstagen wurden schon sieben bis acht Prozent mehr Karten verkauft als in den Eröffnungstagen von 2007.

Kulturjournal, 11.06.2012

Der deutsch-britische Künstler Tino Sehgal lockt die Besucher in einen absolut finsteren Raum. Man ist darin ganz den Ohren und dem Tastsinn ausgeliefert, denn fünf Sänger bewegen sich in der Dunkelheit, kommen näher und entfernen sich wieder. Ein unsichtbares Kunstwerk. Ein Kunstwerk, in dem es keine Dinge gibt.

Diese Klanginstallation von Tino Sehgal findet man irgendwo in den Gassen von Kassel, in einem kleinen Raum eines schönen begrünten Hinterhofes. Es ist einer der vielen Pavillons, die heuer erstmals - nach dem Vorbild der Biennale in Venedig - die Kunst an ganz ungewöhnliche Orte der Stadt bringen.

Eine soziale Skulptur

Etwas weiter in einem Abbruchhaus hat der amerikanische Bildhauer und Stadtplaner Theaster Gates eine Art sozialer Skulptur geschaffen, die man ebenfalls nicht auf Anhieb als Kunstwerk identifizieren würde.

Seit zwei Jahren hat er sich hier mit seiner Künstlergruppe eingenistet und das Haus notdürftig renoviert. Die Besucher sind nun eingeladen, die Künstler zu besuchen, die einzelnen Zimmer sind durch Kordeln abgetrennt. Es hat etwas voyeuristisches, da durch zu gehen, an den ungemachten Betten vorbei, und den kleinen Kunstwerken die da und dort in den Ecken entstanden sind.

Einer der Künstler steht am Herd und lädt die Besucher zum Essen ein. Zu festgesetzten Stunden kann man ihren Proben beiwohnen.

Mehr zum Fühlen, als zum Denken

Es ist die unsichtbare Kunst, die man auf den ersten Blick nicht als solche erkennt oder die ganz ohne Dinge auskommt, die bei dieser documenta im Focus steht.

Es ist eine Kunst, die sich mehr dem Fühlen verschreibt als dem Denken. Denn Documentachefin Carolyn Christov-Bakargiev versucht mit Sätzen wie "ich habe kein Konzept" alte Denkschulen zu zerschmettern, um die nötige Leere für ein neues Denken zu schaffen.

In der Pressekonferenz verlas sie einen Essay, gespickt mit Zitaten von den Alten Griechen bis hin zu Theodor Adorno, den sie dann zerstückelte, in dem sie immer wieder ganze Passagen einfach wegließ.

Das hörte sich so an: "Aufgrund der Tatsache, dass es viele gültige Wahrheiten gibt, ist man ständig mit unlösbaren Fragen konfrontiert. Dadurch entstand einerseits die Wahlmöglichkeit, keine Wahl zu treffen, kein Konzept zu produzieren, und aus einer Position des Rückzugs zu handeln; oder, andererseits eine Wahl zu treffen, von der man weiß, dass sie auch teilweise unvermeidlich und "falsch" sein wird."

Mehr Performance als Pressekonferenz

So tat die Pressekonferenz alles andere, als den Journalisten die Vorhaben der documenta13 zu erläutern. Sie geriet zur Performance und erzeugte Verwirrung. Schon im Vorfeld hatte die Documentachefin auf die beharrlichen Fragen der Journalisten einfach genervt einige provokante Brocken hingeworfen wie "Ich verlange das Wahlrecht für Hunde und Erdbeeren".

Überhitzte Ansagen, eher künstlerisch als kuratorisch, die, wenn sie schon den ausgeklügelter Kunstdiskurs verweigern, so doch einen gewissen Unterhaltungswert bieten.

Was auch immer über diese Sätze noch gerätselt werden mag: Carolyn Christov-Bakargiev ist gegen das anthropozentrische Weltbild, in dem Tiere, Pflanzen und unbelebte Materie keinen eigenen Wert besitzen - es sei denn, sie dienen dem Menschen. Und so kreucht und fleucht es bei dieser Documenta in Kassel.

Schmetterlingsgarten und Kompost

Da gibt es direkt vor dem Friederizianum einen Schmetterlingsgarten Kristina Buchs. Ebenso prominent direkt vor der Orangerie prangt ein etwa vier Meter hoher Berg, den der chinesische Installationskünstler Song Dong aus Müll und Kompost aufgehäuft hat.

Mittlerweile völlig von Unkraut überwachsen ist er für Song Dong ein Sinnbild für den Sieg der Natur über die Zivilisation. Er nennt ihn seinen Nichtstun-Hügel. Ein Ausweg in hektischen Zeiten, in denen Nichtstun vielleicht besser als blinder Aktionismus.

Auch die französische Künstlerin Claire Pentecost gibt einen künstlerischen Vorschlag zum Thema Nachhaltigkeit in der Finanzkrise ab: sie zeigt ganze Stapel von Goldbarren, die allerdings nicht aus Gold sondern aus zusammengepresstem Kompost bestehen.

Zusammenbruch und Wiederaufbau

Aber zurück zu den Pavillons. Es gibt die Geschäfte, Bunker oder was immer, die über die ganze Stadt verstreut sind und Pavillons genannt werden. Dann gibt es aber auch die 30 Kunstwerke in der Karlsaue, für die man richtige kleine Pavillons errichtet hat, von denen manche aussehen wie Schrebergartenhütten aus dem Bauhaus.

Andere wieder wie jener von Christian Philipp Müller ist sehr poetisch: er hat Gemüse in Boote gepflanzt, die auf der Fulda schwimmen. Man kann über die Boote von einem Ufer ans andere gehen - direkt am frischen Mangold vorbei.

Er nimmt damit Bezug auf das von der documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev ausgegebene Motto vom Zusammenbruch und Wiederaufbau ("Collapse and Recovery"). Seinem Kunstwerk hat Müller den Satz mit auf den Weg gegeben: "Der Russe kommt nicht mehr über die Fulda". Sein Gemüse schwimmt in Booten, die als Ersatz für zerbombte Brücken dienen können. Das ist eines der Kunstwerke in Kassel, die man unbedingt gesehen haben sollte.

Schatten, Blätter und Geigerzähler

Keinesfalls versäumen darf man auch den neuen Film von dem südafrikanischen Künstler William Kentrige, der an dem wohl schönsten Ausstellungsort der documenta zu sehen ist: im aufgelassenen Hauptbahnhof.

Kentrige arbeitet wie immer fast ohne Zutaten: mit Schatten, mit Blättern, die er hinstreut und Figuren entstehen lässt, dann geht er wieder höchstpersönlich mit ernstem Gesicht durch die Filme oder macht mit unterschiedlich tickenden Geigerzählern so Tempo, dass einem fast das Herz stehen bleibt.

Gleich daneben die koreanische Künstlerin Hague Yang mit ihren Jalousien, die sich in einer kaum wahrnehmbaren Choreografie bewegen, sollte man auch nicht vorbeigehen.

Flötentöne im Bunker

Etwas gruselig ist der alte Bunker, den das kubanisch-amerikanische Künstlerduo Allora & Calzadilla bespielt, das bei der letzten Biennale von Venedig mit seiner Panzerinstallation vor dem US Pavillon für viel Aufsehen gesorgt hat. Man muss erst einmal einen Helm aufsetzen, bevor man den Bunker betreten darf.

Dann kann man tief in die feuchten unterirdischen Stollengänge hineingehen. Irgendwo weit drinnen stößt man dann auf eine Filminstallation. Eine Flötistin entlockt einer 35.000 Jahre alten Knochenflöte Töne. Ein Geier schaut ihr dabei zu und macht fast tänzerische Bewegungen, als würde er der Musik intensiv folgen.

Poetisch, sinnlich oder politisch

Bis 16.September kann man in Kassel eine ganze Menge von Kunstwerken entdecken, die nicht schrill oder schockierend sind, sondern einfach durch ihre Poesie oder Sinnlichkeit bestechen. Andere wieder setzen sich explizit politisch mit den ehemaligen und aktuellen Krisenherden dieser Welt auseinander: von Vietnam bis Kabul.

Nur eines kann man dieser documenta sicher nicht vorwerfen: dass sie wie etwa die Berlin Biennale die Kunst zugunsten der Politik einfach vergessen hat.