Essays von Irena Brezná
Die undankbare Fremde
Der Beamte in der "leuchtenden Fremde" nimmt dem Flüchtlingsmädchen aus dem "vertrauten Dunkel" erst die "Flügel und Dächlein" in ihrem Namen, dann dessen "runde, weibliche Endung". Das brauche sie hier nicht, sagt er, und fragt die Eltern, woran sie glaubten.
8. April 2017, 21:58
Als sie schweigen, wendet er sich an das Mädchen. "An eine bessere Welt", sagt sie. Da sei sie richtig bei ihnen, versichert der Offizier und heißt sie willkommen.
Keine Wärme und Nähe
Leider findet sich das Mädchen, deren Vaterland in Irena Breznás "Die undankbare Fremde" ebenso wenig wie das Zufluchtsland genannt wird, nicht in einer besseren Welt, sondern in einer "vorrevolutionären Vergangenheit" wieder. Die Slogans an den Wänden rufen nicht zur Veränderung, sondern zum Kauf einer Matratze auf. Sie versprechen Fürsorge, verschweigen aber, dass für sie bezahlt werden muss. Menschenmassen fehlen auf den Straßen, auch die Frauen, vielleicht, so mutmaßt das Mädchen, weil sie kein Wahlrecht besitzen.
Es gibt in der Fremde, die recht bald als die Schweiz erkennbar wird, viele Waren, aber keine Gemeinschaft, keine Wärme und Nähe und keinen gemeinsamen Feind Obrigkeit, dem jedes Misslingen umstandslos zuzuschreiben ist.
"Ich lebte noch in einem Urtropfen", konstatiert das Mädchen, "hier aber gab es schon die Zellteilung." Denn die Schweizer träumen nicht, sie lieben die Ehrlichkeit, gestalten ihre Zukunft, machen ständig Pläne und werden durch Unvorhergesehenes wie Witze gravierend verunsichert. Geselligkeit pflegen sie als nahtlose Fortsetzung der Arbeit. "Sie wollten die Welt lösen", heißt es bitter, "ich wollte sie bloß erzählen."
So privat wie der Besitz ist auch der Körper: niemand lässt sich gern beschenken oder nimmt andere in den Arm. Zwischen dem neuen Land und der Fremden ist ein unsichtbarer eiserner Vorhang aufgespannt.
Eine neue Identität finden
In vielen zwei- bis vierseitigen, so poetischen wie kraftvoll bildhaften Kurzessays versucht die Heranwachsende, den "Erhalt meiner Instinkte" zu sichern. Sie kritisiert das neue Land scharfsinnig in Grund und Boden. Dazwischen stehen, von fern an Michael Schischkins Roman "Venushaar" erinnernd, ebenso kurze, kursiv gesetzte Szenen, in denen eine Dolmetscherin, offenbar das einstige Flüchtlingskind, zwischen Emigranten und Behörden vermittelt.
Den ausländischen Dieben, Betrügern, Selbstmördern, Depressiven, Invaliden und Krebskranken ist aus unterschiedlichsten Gründen nicht geglückt, was der Heranwachsenden am Ende gelingt: eine neue Identität auszubilden und in der Schweiz anzukommen. "Die undankbare Fremde" ist wie Melinda Nadj Abonjis Roman "Tauben fliegen auf" eine glückende Integrationsgeschichte.
Ein fremder Blick
Irena Brezná hat keinen Roman verfasst, auch wenn der Verlag das behauptet. Der Wechsel von essayistischen und erzählenden Passagen, von damals und heute, von unnachgiebigem Beharren auf der Wahrheit kindlicher Erfahrung im Sozialismus zum Einsatz der Dolmetscherin, die zwischen grausamen Lebensgeschichten und kühlem Behördenzugriff vermittelt, kontrastiert schroff verschiedene Fremdheiten.
Dieses Hin- und Herspringen löst die anfängliche absolute Distanz des Flüchtlingskindes auf, und am Ende steht die neue Patchwork-Identität als "Emigrazia".
Viele der Kurzessays sind erhellend. Der fremde Blick zeigt ein Kulturkorsett, das mit leichten Abweichungen ebenso in Österreich, Deutschland oder Frankreich das Miteinander formt. Irena Brezná neigt zu aphoristischen Formulierungen, die ihre eigene Schönheit besitzen; manchmal allerdings schließt sie zu selbstverliebt zwei Sphären miteinander kurz und gerät dann vom Speisen in Restaurants zum "knusprigen Spiel der Demokratie".
Problematisch ist jedoch die Erzählperspektive: Die Ich-Erzählerin ist dem Mädchen und der Heranwachsenden intellektuell und sprachlich weit überlegen, hat jedoch deren verzweifeltes Festhalten an den sozialistischen "Instinkten" zu rechtfertigen. Das geht nicht gut: Bald wirkt das Mädchen selbstgerecht, man versteht nicht, warum diese umfassende und schneidende Kritik nicht auch zur Selbstkritik wird. Schade, dass Irena Brezná, 1950 in der Tschechoslowakei geboren und 1968 emigriert, meinte, von einer Entwicklung erzählen zu müssen. Die vielfach ausgezeichnete Reporterin und Verfasserin autobiografischer Romane hätte einfach ihren Fähigkeiten zur scharfsinnigen Poetisierung von Alltagssituationen vertrauen sollen.
Service
Irena Brezná, "Die undankbare Fremde", Galiani Verlag
Galiani - Die undankbare Fremde
Irena Brezná