Ausstellungen zur Judenverfolgung

Französische Kinder im Holocaust

Frankreich hat an diesem Wochenende den 70. Jahrestag des Beginns des Judendeportationen gedacht, die in Frankreich de facto mit der sogeannten "Rafle du Vel d'Hiv", der Massenrazzia am 16. und 17. Juli 1942 in Paris ihren Anfang genommen hatten.

Damals hatte die französische Polizei über Nacht 13.000 Juden - überwiegend Frauen und Kinder - verhaftet und ins berühmte "Velodrome d'Hiver", in eine Mehrzwecksporthalle in der Nähe des Eiffelturms geschafft, von wo aus sie dann über mehrere Internierungslager mit den ersten Transporten aus Frankreich in die Vernichtungslager, vor allem nach Auschwitz deportiert wurden.

Staatspräsident Francois Hollande hat gestern im Rahmen einer Gedenkzeremonie noch einmal ausdrücklich die französische Mitverantwortung dafür öffentlich zum Ausdruck gebracht, von einem Vebrechen gesprochen, das in Frankreich und von Frankreich begangen wurde.

Aus Anlass dieses 70. Jahrestags sind in Paris den ganzen Sommer über zwei Ausstellungen zu sehen, die das Grauen der Shoah aus der Perspektive der Kinder zu Thema haben. "Im Herzen des Genozids. Die Kinder der Shoah 1933-45" heißt die Ausstellung im Pariser Holocaust-Memorial, "Das waren Kinder" die im Rathaus der französischen Hauptstadt.

Die Ausstellung in der Pariser Holocaust-Gedenkstätte nimmt einen mit - an der Seite von Kindern auf eine Reise in die Hölle, eine zutiefst bewegende Ausstellung aus der Perspektive von Zehn- bis 16-Jährigen, wie man sie ganz selten jemals gesehen hat. Mit großem Aufwand wurden Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und Zeugenaussagen aus den Jahren nach dem Krieg aus aller Welt übersetzt und hier dokumentiert.

"Es gibt viele schriftliche Dokumente, die seit dem Ende des Krieges nie übersetzt worden sind", sagt Sophie Nagiscarde, die Kuratorin der Ausstellung. "Wir haben Leihgaben aus Warschau, aus israelischen Museen bekommen und in unserem eigenen Fundus hatten wir Sachen, die seit 1945/46 nie wieder aufgelegt worden waren, auf Polnisch, Hebräisch oder sogar Jiddisch. Wir wollten wirklich den Kindern das Wort erteilen, auf der Grundlage dessen, was sie niedergelegt haben. Was man nicht genügend weiß: Die Kinder haben viel aufgeschrieben. Es heißt häufig, die Überlebenden hätten nichts erzählt. Doch, die Kinder haben ihre Geschichten erzählt, auch während des Kriegs, Tagebücher zum Beispiel. Natürlich kennen alle das Tagebuch der Anne Frank, aber sie war bei weitem nicht die einzige während des Holocausts, enorm viele Kinder haben geschrieben."

Reif wie Erwachsene

Andere können heute noch Zeugnis ablegen. Karol Pilla war vor 70 Jahren eines unter 4.115 Kindern, die von der französischen Polizei am Morgen des 16. Juli in einen Bus der Pariser Vekehrsbetriebe verfrachtet und ins Velodrome d'Hiver oder in andere Lager gebracht wurden. Wie durch gleich mehrere Wunder hat der damals Zwölfjährige am Ende Auschwitz überlebt.

"Ich rede heute und widme meine Zeugenaussage den 1,5 Millionen Kindern, die nicht mehr sprechen können, weil sie vernichtet wurden", so Karol Pilla. "Die Nazis haben sich mit mir amüsiert, ich war für sie ein lebendes Spielzeug. Sie amüsierten sich, mich zu foltern. Ein Beispiel: Sie stellten mir eine Konservenbüchse auf den Kopf und schossen auf diese Büchse, schossen auf ein Kind und sagten: Hast Du Angst? Nein, sagte ich. Soll ich niedriger schießen? Ach, sagte ich, wenn es Euch danach ist, schießt, schießt doch. Sie haben es nicht gemacht. Ich hab einem auch gesagt - und ich hab ihn geduzt -, ich hatte keine Angst, hab gesagt, du vergehst dich an einem Kind, an einem Kind ohne Waffen, mach es doch, aber wenn du schießt, dann wirst du dein ganzes Leben lang Gewissensbisse haben. Ich hab nichts zu verlieren. Niemand wird um mich weinen, ich hab niemanden mehr."

Die Kuratorin der Ausstellung unterstreicht: "Was mich besonders berührt hat bei den Schicksalen jedes einzelnen Kindes, ist die Reife dieser Kinder. Die geschrieben haben, waren zwischen zwölf und 16, dann die Energie, mit der sie versuchten zu überleben, die Reife und die Kälte, mit der sie erzählen, was mit ihnen geschieht, und gleichzeitig - und das ist extrem berührend - machen sie sich immer Sorgen um andere Kinder."

Durch Zufall gerettet

Die Ausstellung im Pariser Rathaus beschränkt sich auf die Razzia in der französischen Hauptstadt vor 70 Jahren und die darauf folgenden Deportationen, thematisiert aber auch die Rettung von jüdischen Kindern, denn trotz aller Gräuel und Kollaboration von französischer Seite mit den nationalsozialistischen Besatzern: 80 Prozent der jüdischen Kinder, die 1939 in Paris gelebt hatten - viele von ihnen später Waisen -, sind in jenen Jahren versteckt und gerettet worden. Robert Spira war damals gerade vier Jahre alt, erinnert sich aber bis heute noch ganz genau an die Razzia:

"Der Polizist hat mich angeschaut, es war sonst niemand da, hat nach dem Namen gefragt, wir haben gesagt: Spira, und plötzlich fing er an zu schreien, wurde drohend und hat gebrüllt: Haut ab! Meine Mutter hat nach dem Krieg immer gesagt: Der hat uns im Juli 42 das Leben gerettet. Dieser Polizist, der seit fünf Uhr morgens die Leute in die verschiedenen Lager schickte, ins Velodrome d Hiver, nach Drancy oder Pithiviers, der an diesem Verbrechen mitgewirkt hat, an der Ermordung dieser 4.000 Kinder, warum hat er uns gerettet? Fragen, auf die es keine Antwort gibt."

Wie wichtig derartige Ausstellungen heute immer noch sind - ja vielleicht wichtiger als vor 20 Jahren - zeigt die erschreckende Zahl einer jüngsten Meinungsumfrage: 60 Prozent der 18- bis 25-jährigen Franzosen wissen heute bereits nicht mehr, was das war, die Razzia des Winter-Velodromes in Paris im Juli 1942.

Service

Memorial de la Shoah
Rathaus Paris - Il y a 70 ans, la Rafle du Vel d'Hiv