Suche an den Schaltstellen der Macht
Die Psychopathen sind unter uns
Mit den Abgründen der Psychologie beschäftigt sich der britische Autor Jon Ronson in seinem neuen Werk: "Die Psychopathen sind unter uns". Darin geht er den Fragen nach: Was ist eigentlich ein Psychopath? Wie wird entschieden, ob jemand ein Psychopath ist? Und nicht zuletzt: Wie kann man Anstaltsärzte überzeugen, dass man kein Psychopath ist, um entlassen zu werden?
8. April 2017, 21:58
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Es war der französische Psychiater Philippe Pinel, der im frühen 19. Jahrhundert postulierte, dass es einen Wahnsinn gebe, der weder Manie noch Depression noch Psychose beinhalte. Er nannte ihn "manie sans delire" - Wahnsinn ohne Wahnvorstellungen.
Die Psychopathie ist eine schwere Persönlichkeitsstörung mit stark dissozialem oder antisozialem Verhalten. Den Betroffenen merkt man das zunächst oft gar nicht an. Das teilweise völlige Fehlen von Gewissen, Verantwortung und Empathie wird übertüncht von natürlichem Charme und einnehmendem Wesen.
Typische Merkmale
Um die Psychopathie, die übrigens nach wie vor nicht in die weltweit anerkannten Krankheits-Klassifizierungssysteme aufgenommen wurde, besser erkennen zu können, hat der kanadische Psychiater Robert Hare eine Psychopathen-Checkliste erstellt. Diese enthält 20 Punkte mit typischen Merkmalen wie "erheblich übersteigertes Selbstwertgefühl", "pathologisches Lügen", "parasitärer Lebensstil", "Impulsivität" oder "unzureichende Verhaltenskontrolle".
Justizministerien auf der ganzen Welt haben Hares berühmte Liste mittlerweile ebenso akzeptiert wie seine Behauptung, dass Psychopathen unbehandelbar seien. Über die unzähligen gescheiterten Heilungsversuche in den 1960er Jahren macht sich der umtriebige Professor im Interview mit dem Autor heute noch lustig.
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"Sie ließen die Psychopathen nackt rumrennen und über ihre Gefühle sprechen!" Bob Hare lachte. "Sie ließen Psychopathen auf Bohnensäcken rumsitzen! Sie setzten Psychopathen als Therapeuten für andere Psychopathen ein!" Er schüttelte den Kopf über so viel Idealismus.
Tatsächlich wirken die auch im Buch ausführlich beschriebenen Therapie-Experimente amerikanischer und kanadischer Psychiater in den 1960er Jahren immer noch abenteuerlich. In den in Palm Springs durchgeführten 24-Stunden-Nonstop-Marathon-Nacktpsychotherapien erlebten die Teilnehmer eine emotionale Achterbahnfahrt, die sie wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang nicht mehr vergessen konnten. Höhepunkt des seelischen Gewaltakts war das gegenseitige "Genitalien-Starren".
Absurde Therapien
Ein anderer Heilversuch, das "Oak-Ridge-Programm", fand in einem kleinen, hellgrünen Raum, der sogenannten "Total-Encouter-Kapsel" statt. Mehrere inhaftierte kriminelle Psychopathen sollten dort nackt und unter starkem LSD-Einfluss ihren versteckten Wahnsinn nach außen kehren und über ihre Gefühle reden, Gewalttäter sollten Zärtlichkeit lernen. Die Experimente scheiterten kläglich: Unter normalen Umständen wurden zu dieser Zeit 60 Prozent der kriminellen Psychopathen in Freiheit wieder straffällig. Bei Absolventen des "Oak-Ridge-Programms" stieg die Quote auf 80 Prozent. Die Kapsel hatte die Psychopathie der Insassen offenbar noch verstärkt. Robert Hare weiß warum:
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"Lehre ihnen Empathie, und sie werden es hinterhältig und eigennützig als Trainingsprogramm zur Vortäuschung von Empathie missbrauchen. Sie studieren uns und lernen uns nachzuäffen, wie Außerirdische, die versuchen, nicht aufzufallen."
Schaden im Gehirn
Hare ist nach zahlreichen Untersuchungen überzeugt davon, dass bei Psychopathen ein neurologisches Problem vorliegt. Der Mandelkern, jener Teil des Gehirns, der uns auf Unangenehmes vorbereitet, indem er Angstsignale an das Zentralnervensystem sendet, funktioniere bei ihnen nicht so, wie er sollte. Seine Schlussfolgerung: Psychopathen haben keinerlei Angst vor Strafe.
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"Sie hatten keine Erinnerung an den Schmerz des Elektroschocks, den sie nur wenige Momente zuvor erhalten hatten", sagte Bob. "Was hat es nun für einen Sinn, ihnen mit Gefängnis zu drohen? Diese Drohung hat für sie keine Bedeutung."
Psychopath oder nicht Psychopath?
Bewaffnet mit der Psychopathen-Checkliste macht sich der Autor Jon Ronson auf eine spannende Spurensuche, inklusive skurriler Exkurse. Da nicht jeder Psychopath zwangsläufig hinter Gitter kommt, liegt die Vermutung nahe, dass viele Psychopathen mitten unter uns sind. Jon Ronson findet skrupellose Unternehmer, gefühllose Hotelpagen und eiskalte Bankiers. Sie alle haben gewiss psychopathische Züge. Die Vermutung, dass ohne waschechte Psychopathen an den Schalthebeln der Macht unsere Welt eine gänzlich andere wäre, ist dann aber schon eine recht gewagte Spekulation.
Dennoch sind die Menschen, die er persönlich trifft, um herauszufinden, welcher Grad an Wahnsinn in ihnen schlummert, fesselnde Charaktere. Darunter sind so illustre Gestalten wie Toto Constant, ehemaliger Führer der rechtsextremen Todesschwadronen in Haiti; der Manager Al Dunlap, ein amerikanischer "Downsizer" übelster Art, dessen größte Freude es war, Menschen zu entlassen; oder David Shayler, ehemaliger MI5-Agent, selbsternannter Gottessohn und manischer Verschwörungstheoretiker.
Der wohl interessanteste Protagonist ist Tony. Er wurde mit 17 wegen schwerer Körperverletzung verhaftet. Um dem Gefängnis zu entgehen, täuschte er die zuständigen Ärzte und landete als diagnostizierter Psychopath in der berüchtigten psychiatrischen Anstalt Broadmoor. Als der Autor Tony trifft, kämpft dieser bereits seit über zwölf Jahren um seine Rehabilitation. Und folgt man seinen Ausführungen, so scheint es, dass einschlägige Hollywood-Dramen nicht so weit von der Realität entfernt sind, wie man glauben möchte: Für einen fälschlicherweise als "verrückt" Eingestuften ist es scheinbar nach wie vor fast unmöglich zu beweisen, dass er nicht verrückt ist.
Service
Jon Ronson, "Die Psychopathen sind unter uns. Eine Reise zu den Schaltstellen der Macht", aus dem Englischen übersetzt von Martin Jaeggi, Tropen Verlag
Tropen Verlag - Die Psychopathen sind unter uns