Geschichte von Cécile Wajsbrot

Die Köpfe der Hydra

Die Auseinandersetzung mit Alzheimer- und Demenz hat jenseits medizinischer Darstellungen mittlerweile fast ein eigenes literarisches Genre hervorgebracht. Martin Suter und Irene Dische machten sie zum Thema, Alice Munros Geschichte "Der Bär klettert über den Berg" wurde anrührend verfilmt, Arno Geigers "Der alte König in seinem Exil" im vergangenen Jahr hoch gelobt und mit Preisen bedacht.

Selbst Udo Jürgens' langjähriger Songschreiber Thomas Christen schildert in seinem unlängst erschienenen Debütroman "Der Abend vor der Nacht" das verlöschende Erinnerungsvermögen eines alten Mannes.

Eine Art Tagebuch

Auch Cécile Wajsbrot, in Berlin und Paris lebende Autorin, hat nun ein Buch vorgelegt, das sich in diese Reihe einzufügen scheint: "Die Köpfe der Hydra". Auch sie beschreibt, was eine derartige Krankheit aus dem Menschen macht, und doch ist ihr Text ein Solitär. Kein Roman, keine Fallstudie, "eine Geschichte" eben, so steht es auf dem Deckel des knapp zweihundert Seiten umfassenden Buches.

"Ich schreibe eine Art Tagebuch", heißt es darin, "aber ohne Datum, in dem nur die Zeit vergeht, eine Zeit, die gleichzeitig stagniert und verrinnt." Wajsbrot hatte ursprünglich ihre Arbeit an diesem Tagebuch abgebrochen, die Idee einer Veröffentlichung verworfen. Vor drei Jahren dann fand die Autorin beim Aufräumen ihre Aufzeichnungen zufällig wieder.

"Und natürlich aus Neugier habe ich angefangen zu lesen und sofort habe ich gesehen, was nicht stimmte", so Wajsbrot im Gespräch. "Und ich habe fast automatisch angefangen, daran noch einmal zu arbeiten. So ist diese Fassung entstanden."

Ein Buch der Fragen und Erkenntnisse, das weit über Privates hinausweist, auch wenn es aus Perspektive einer Ich-Erzählerin geschrieben ist.

Verlorene Erinnerungen

Wajsbrot berichtet liebevoll, aber auch irritiert und erschöpft vom Verfall ihres an Alzheimer erkrankten Vaters, von unserer Gesellschaft, die - sensationslüstern, kurzlebig und oberflächlich - diese Art von Katastrophe nicht erfassen oder mit ihr umgehen will. Sie berichtet von der Tragödie unwiderruflich verlorener Erinnerungen, vom Verschwinden des Lebens: dem des Vaters, doch auch ihres eigenen.

"Ich fühlte mich wirklich von der Krankheit und natürlich dem Tod umgeben", erinnert sich die Autorin. "Also ich wusste natürlich, am Ende kommt der Tod - ja, ich hatte Schwierigkeiten, mein eigenes Leben zu finden. Das heißt, ich fand mich wirklich von dieser Krankheit oder von diesem Kümmern wie verschlungen."

Nachgeborene, beklagt Cécile Wajsbrot beim Schreiben, werden in eine familiäre Verantwortung gezwungen. Sie müssen mit dem Erbe ihrer Eltern leben, in diesem Fall vor allem auch deren Erinnerungen bewahren. Die Autorin, Jahrgang 1954, ist Tochter von Holocaust-Überlebenden. Das erhöht die Last, die sie zu tragen hat, denn wenn der Vater nicht mehr weiß, wie es ihm gelang, die Verfolgung durch die Nazis zu überleben, muss die Tochter es erinnern. Und das trotz eines emotionalen Zwiespalts:

"Es gab kaum ein Verhältnis oder kaum Kommunikation in meiner Kindheit und danach. Mein Vater und meine Mutter waren sehr unterschiedlich. Es gab immer diese zwei verschiedenen Welten, und ich habe mich sehr früh für meine Mutter entschieden, so dass mein Vater fast nichts für mich galt, und er sprach wenig, und wusste auch nicht, wie mit Kindern umzugehen."

Schmerzhafte Verantwortung

Trotzdem übernimmt die Tochter als Angehörige der "Zweiten Generation" ihre besondere Verpflichtung dem Vater und seiner Geschichte gegenüber, stellt sich der persönlichen und historischen Verantwortung. Wie schmerzhaft das sein kann, davon berichtet ihr Buch. Wie, fragt sie sich, "soll man sein eigenes Leben leben, wenn es darin besteht, das der anderen zu kompensieren?"

Die Auseinandersetzung mit dem kranken Vater führt die Tochter in eine Lebenskrise. Nur mühsam kann sie sich mit Gedichten von Jessenin, Zwetajewa, der Lektüre von "Moby Dick", mit der Dritten Sinfonie von Gorecki und den Chansons von Francoise Hardy trösten und zum Weitermachen bewegen. Sie muss mit den ständig wechselnden Phasen der Krankheit fertig werden. Und sich obendrein um ihre ebenfalls demente Tante kümmern. Sie muss die Pflege organisieren, die tägliche Betreuung, die Arztbesuche, aber doch auch die Beziehung zum eigenen Lebensgefährten und ihre Arbeit.

Woher das Geld nehmen, das nötig ist, um die Pflegkräfte für den Vater zu finanzieren? Schnell wird klar, wie deprimierend und kräfteraubend all das ist: "Ich hatte den Eindruck, wirklich wie mit einer Hydra zu tun zu haben. Mit so vielen Köpfe, sodass ich nie, mich nie mehr von denen befreien könnte."

Selbstbefreiung vom Erbe

So sehr man auch versuche, sich den Einflüssen der Eltern zu entziehen und ihre Prägungen und Forderungen abzuwehren, so aussichtslos erscheint Cécile Wajsbrot dieser Kampf. "Die Köpfe der Hydra" ist nicht nur eine Krankheits-, sondern auch eine Familiengeschichte. Und die einer Selbstbefreiung vom Erbe des Holocaust.

"Ich glaube auch, dass mein ganzes Leben auch wie ein Kampf für eine Befreiung ist", sagt Wajsbrot. "Ich habe ziemlich viel Zeit gebraucht, um mir selbst zu sagen, dass diese Geschichte auch nicht meine Geschichte ist. Es ist die Geschichte der vorherigen Generation. Ich muss natürlich diese Geschichte annehmen, aber nicht als meine, sondern als ihre und alles nicht vermischen."

Wajsbrots Ton ist direkt, als ob sie einem ihre Geschichte unter vier Augen erzählt. Der Leser nimmt teil an ihren Überlegungen, ihrer Niedergeschlagenheit, auch an den heiteren Momenten, die sie noch mit dem Vater erlebt. Das Buch rührt an, macht traurig. Und gleichzeitig transzendiert es die Trauer. Das zu schaffen, ist die Kunst der Autorin. Ihre persönliche Erfahrung erscheint in einem größeren, metaphysischen Zusammenhang. Indem Cécile Wajsbrot etwas für ihren Vater tut, kommt sie ihm und sich selber näher. Insofern hat sie die Hydra schließlich doch besiegt:

"Ich bedauere es nicht, so viel Zeit mit ihm verbracht zu haben und ich glaube, es war auch mir wichtig, weil ich ihn immer ein bisschen - also es ist ein schwieriges Wort - ein bisschen verachtet hatte und in dieser Zeit hat er für mich eine Würde gewonnen."

Service

Cécile Wajsbrot, "Die Köpfe der Hydra", aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Grosse, Matthes & Seitz Verlag

Matthes & Seitz - Die Köpfe der Hydra