Das zweite Buch von Carolina Schutti

einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein

Das Kind hat einen Klang im Ohr, eine Satzmelodie, ein paar Wörter, von denen es nicht weiß, was sie bedeuten. Mehr ist ihm nicht geblieben von seiner Mutter. Sie ist früh gestorben, da war Maja, wie das Mädchen heißt, noch sehr klein. Nun wächst sie heran und spürt, wie die Erinnerung bei ihr anklopft. Doch wenn sie ihr die Türe öffnet, ist niemand zu sehen. So bleibt Maja allein zurück, wieder und wieder.

"einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein" heißt das zweite Buch von Carolina Schutti. Schon im Titel steckt das Vage, das Wissen um etwas, das da ist und doch auch wieder nicht. Der Band - ob Roman oder Erzählung, das lässt die Autorin offen - wird zur subtilen Geschichte darüber, was Sprache bedeuten kann und wie sehr sie uns ortet.

Andere Wörter in ihr

Maja begreift lange Zeit nicht, was ihr in Kindertagen passiert ist: Die Mutter, eine Weißrussin, ist als junge Frau nach Österreich gekommen. Nach ihrem Tod ist der Vater, der hier zuhause ist, ratlos und überfordert zurückgeblieben. Maja landet im Heim, später bei einer Verwandten.

Bei dieser Großtante wächst sie auf, in einem Dorf am Land. Sie spricht deutsch, ganz selbstverständlich, und bemerkt doch, dass da noch andere Wörter in ihr nachklingen. Das verwirrt sie. Der Vater schreibt Glückwunschkarten zu den Festtagen und lässt sich ansonsten nicht blicken. Die Tante, etwas distanziert von ihrem Wesen her, versucht ihr Bestes. Ein Kind muss sauber und satt sein, das ist ihr wichtig.

Man könne sich von der Vergangenheit keine Scheibe abschneiden, so die Tante, und stellt Brot, Butter und Käse auf den Tisch, dazu viel Kuchen. Es soll Maja an nichts fehlen. Doch wenn's ums Fragen und Reden geht, wird die Tante schweigsam. Der Mutter habe es hier im Dorf nie gefallen, erklärt sie dem Mädchen, es sei ihr hier nicht gut genug gewesen und deswegen sei sie auch schnell wieder weggelaufen. Und dann früh gestorben. Der Rest liegt im Dunkel. Doch gerade das Unausgesprochene und die Ahnungen machen Maja zu schaffen.

Vertrautes Thema

Carolina Schuttis Buch ist ein Nachdenken darüber, was Sprache bedeutet, wenn es darum geht, sich zu verwurzeln. Dass ihr das Thema vertraut ist, spürt man. Wenn man dann noch erfährt, dass ihre Muttersprache Polnisch war und dass sie diese in der Zwischenzeit vollends verloren hat, meint man auch den Schreibimpetus zu kennen.

Sprache als Mittel der Identitätsbildung, das ist natürlich ein zentrales, wenn auch kein neues Thema der Literatur. Bei Carolina Schutti kommt es eigenwillig und vor allem eigenständig daher. In knappen Sätzen porträtiert sie eine Figur, die immer draußen bleibt: fremd im Dorf, aber auch fremd im eigenen Körper.

Schützen und tarnen

"Eines Abends schrieb ich einen Satz, einen halben Satz auf, der mir unterwegs eingefallen war", liest man gleich zu Beginn des Buches, und weiter, fast wie einen Wunsch: "Könnte man sich all die Geschichten wie einen Schutzschild vor den Leib halten, sich fremde Sätze umhängen wie einen Tarnmantel." Sich schützen und tarnen: So schlägt sich Maja durch, immer im Gefühl, dass ihr etwas fehlt: der Blick der Mutter, die Geschichten von Großeltern, Tanten und Onkeln, ein Teil ihrer Biografie, die von ihr abgeschnitten ist. Das macht sie unsicher und verletzbar.

Die Freundschaft mit einem polnischen Zwangsarbeiter, der nach dem Krieg in Österreich hängen geblieben und hier alt geworden ist, schafft ihr ein Stückchen Heimat. Doch auch diese Verbindung trägt nicht bis ins Erwachsenenalter.

Carolina Schutti folgt ihrer Figur durch die Jahre. Sieben Kapitel werfen Schlaglichter auf kleine Teile dieser Biografie: kein großer Erzählbogen, sondern kurze, in sich geschlossene Szenen, die die Persönlichkeit der Maja spiegeln - und mit ihr auch das Umfeld ihres Alltags. Wo das Kind auftritt, wirkt diese Prosa am stärksten, da vermittelt sich die Empfindung, ein Stück weit in der falschen Haut zu stecken, am intensivsten.

Maja ist eine junge Frau, als sie in die Stadt zieht, vielleicht auch, um der Mutter und deren Lebensgefühl zu folgen. Doch der Neubeginn allein macht sie nicht glücklich. Sie steht weiterhin neben sich, unschlüssig auch in ihren Beziehungen zu Männern. Und wenn sie nun vor Ort, in Weißrussland, nach sich und ihren Wurzeln suchen würde?

Jedem Wort sein Platz

Die Identitätsfindung ist ein Thema, das in der Literatur ziemlich gefährlich ist, weil es das Pathos anzieht und oft im Klischee versandet. Nicht bei Carolina Schutti. Das Buch wirkt seltsam schlicht und darin eigenwillig und konzis. Klare Sätze, nichts Aufgeladenes, Verrätseltes. Stattdessen eine sehr durchgestaltete, extrem verknappte Prosa, in der jedes Wort seinen Platz hat. Gerade die vermeintliche Strenge öffnet die Räume zur Poesie.

Die Matrjoschka, die hölzerne Puppe mit dem verblüffenden Innenleben, ist liebstes Spielzeug des Mädchens und wird der Schlüssel zum Verständnis dieser Figur. "Und dass eine Geschichte in der anderen steckt von ihrer frühesten Kindheit an, daran wird Maja auch denken und nichts daran ändern können."

Das Buch ist auch ein Nachdenken darüber, wie man ins Schreiben abtaucht, wie man hineinschlittert in eine Geschichte und wie man sie vorantreibt. Es gäbe so viele erste Sätze, heißt es zu Beginn des Bandes. "Fang einfach an." Carolina Schutti ist eine sehr reflektierte Autorin, bei ihr passiert nichts ohne Hintersinn. Sie wechselt die Perspektiven, arbeitet mit Leitmotiven und - sehr viel seltener - mit Bildern. Das Zusammenspiel dieser sparsamen Mittel wirkt suggestiv.

"Die Mutterwörter und die Kindeswörter der Daunenhöhle liegen verstreut irgendwo", liest man gegen Schluss des Bandes, "als hätte Frau Holle zu fest geschüttelt, als hätte sich ein Riss aufgetan, der die daunenweiche Heimlichkeit fallen ließ". Carolina Schutti zieht uns Leser mit hinein in den Riss. Er hält einen gefangen.

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Carolina Schutti, "einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein", Otto Müller Verlag

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